Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
dadurch von ihrer sonstigen Haltung unterschied, daß ihr fleischiger Schädel leicht nach hinten versetzt an ihrem Kugelwanst klebte.
    Ihr Mund stand weit offen, und noch immer drangen klägliche Überreste ihres Geschreis daraus hervor, heiseres Krächzen, unterbrochen von abgehacktem Atemholen. Auch ihre Augen waren weit aufgerissen – das erste Mal, daß ich unter den Fettwülsten ihrer Lider die Pupillen erkennen konnte. Ariane schien verstört aber unverletzt, was bedeutete, daß der Mörder, so er denn bei ihr gewesen war, unverrichteter Dinge verschwunden war.
    Faustus stand neben dem Bett, ebenso die übrigen Traumschüler. Sogar die Zwillinge waren hinzugekommen; sie drängten sich verstört aneinander, einige Schritte abseits der anderen. Ihr schwarzes Haar war zerzaust, die weißen Hemdchen zerknittert. Offenbar waren sie eben erst aus Nicholas’ Bett geschlüpft.
    Mein Meister bemerkte natürlich, daß auch Angelina und ich den Raum betraten. Er verzog finster die rechte Augenbraue, sagte aber nichts und kümmerte sich lieber um Ariane. Erst ruhig, dann immer heftiger sprach er auf sie ein. Nachdem sie trotz zahlreicher Versuche keine Antwort gab, ja, nicht einmal ihre Schreckensmiene ablegte, holte Faustus mit der Rechten aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Die fleischigen Wellen, die der Schlag verursachte, rollten von ihrem Gesicht bis hinab zum Bauch. Es war, als geriete ihr ganzer Leib in zitternde Schwingung.
    »Ich…«, brachte sie schließlich bebend hervor, »ich habe ihn gesehen.«
    »Wen hast du gesehen?« fragte Faustus, obgleich doch jeder die Antwort bereits wußte.
    »Sisyphos’ Mörder. Delphines Mörder«, keuchte sie schwerfällig.
    Die Umstehenden wurden von Unruhe gepackt. Nicholas Erasmo, der sich in der Eile nur eine Hose übergezogen hatte, brach mit schwankender Stimme das Schweigen: »Was tun wir hier eigentlich, verdammt? Was tun wir hier?«
    Bosch sah ihn nicht an, als er trocken entgegnete: »Warten, bis einer übrig bleibt. Was sonst?«
    Faustus beachtete die beiden nicht und packte Ariane an ihrem teigigen Oberarm. »Hast du sein Gesicht erkannt?« fragte er.
    Ariane wollte nicken, doch ihr Doppelkinn war dabei im Weg. »Ja«, antwortete sie, »ich sah ihn.«
    »Das ist doch lächerlich«, warf Nicholas aufgeregt ein. »Wie hätte sie ihn sehen sollen, ohne daß wir ihm auf dem Gang begegnet wären?«
    Faustus schenkte ihm einen giftigen Blick. »Vielleicht sind wir ihm ja begegnet, ohne es zu bemerken, nicht wahr, Nicholas?«
    Der Musiker trat zornig einen Schritt auf ihn zu. »Was willst du damit sagen, Quacksalber?«
    »Das weißt du doch, oder?« entgegnete Faustus ruhig. »Wir waren alle auf dem Gang. Und jeder von uns kann der Mörder sein.«
    »Aber doch nicht unser Nicholas«, fuhr Walpurga höhnisch dazwischen. Sie trug trotz der späten Stunde ihre volle Schwesterntracht. »Nicholas würde niemandem etwas antun, ist es nicht so, mein Lieber?«
    Der Musiker sah sich mit einem Mal von allen Seiten angegriffen. Blut schoß ihm ins Gesicht. Seine rechte Hand schoß vor und packte Walpurga an der Kehle. »Bei dir häßlicher Krähe könnte ich eine Ausnahme machen…«
    »Nicholas!« Faustus riß ihn herum. Walpurga befreite sich stöhnend aus Nicholas’ Griff und taumelte hustend zurück. »Laß uns hören, was Ariane gesehen hat«, rief Faustus bestimmt. »Und mach unsere Lage nicht noch schlimmer, als sie es ohnehin schon ist.«
    Nicholas gab keine Antwort und beachtete Walpurga nicht weiter. Die angebliche Hexe fluchte still vor sich hin und hielt gebührlichen Abstand zu ihrem Angreifer. Sie sah nicht aus, als könnte sie leicht vergessen, was gerade geschehen war.
    Faustus wandte sich wieder an Ariane. »Wessen Gesicht hast du gesehen?«
    »Braumeister!« stieß sie hervor und starrte dabei stur an allen anderen vorbei zur Wand. »Adelfons Braumeister!«
    »War er hier in deinem Zimmer?« fragte Faustus ohne großes Erstaunen.
    »Nicht im Zimmer«, gab Ariane zurück. »Hier oben war er.« Dabei hob sie eine Hand und deutete auf ihren Schädel.
    Nicholas seufzte, sagte aber nichts. Auch die übrigen wirkten enttäuscht.
    Nur Faustus blieb ernst. »Du hattest wieder eine Vision?«
    Ich erfuhr kurz darauf, daß Ariane gern von sich behauptete, ein mächtiges Medium zu sein, und es scheint mir, als täte ich gut daran, diese Erklärung voranzustellen. Sie sah oft Dinge in ihren Träumen, die aus der Erfahrung eines anderen zu stammen schienen. Sie

Weitere Kostenlose Bücher