Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
hörte Stimmen von Lebenden, die sich an weit entfernten Orten aufhielten, und von Toten aus dem Jenseits. Offenbar vermutete Faustus, daß eine solche Erscheinung sie auch an diesem Abend heimgesucht hatte.
Ariane bestätigte seinen Verdacht. »Eine Vision, ja. Braumeister ist der Mörder. Er hat Sisyphos und Delphine getötet. Er wird weiter morden, immer weiter. Ich hab ihn gesehen, mit dem Messer über Delphines Leichnam. Überall Blut.«
Sie sprach stoßweise und undeutlich. Vielleicht war das der Grund, weshalb Faustus einen Augenblick lang erstaunt das Gesicht verzog.
»Ich habe es gewußt«, tönte Nicholas. »Adelfons hat es auf uns alle abgesehen. Der Vater ist in ihm.«
Walpurga fiel, trotz aller Streitigkeiten mit dem Musiker, in seine Rede ein. »Der Vater bestimmt seine Träume. Er läßt ihn morden. Er will, daß wir alle sterben.«
Ariane schien sich einigermaßen gefangen zu haben. »Wir müssen ihm zuvorkommen. Sucht ihn und tötet ihn. Dann sind wir sicher.«
Bosch schüttelte den Kopf. »Dann wird der Traumvater von einem anderen Besitz ergreifen. Ich verstehe eure Aufregung nicht. Sind wir nicht deshalb hierhergekommen? Ihr alle wußtet, was geschehen würde. Nur einer kann überleben. Nur einer wird Nachfolger. Die anderen sterben. So sollte es von Anfang an sein. Warum lehnt ihr euch jetzt dagegen auf?«
»Dir mag es nichts ausmachen, zu sterben«, entgegnete Nicholas wütend.
»Wer sagt, daß ich sterbe?« fragte Bosch mit Unschuldsmiene. »Einer muß überleben.«
Nicholas lachte böse. »Und das bist ausgerechnet du, alter Mann?«
Der Maler blieb gelassen. »Wenn beim Sterben in diesem Schloß das Alter eine Rolle spielte, wäre ich zweifellos schon tot, nicht wahr?«
Faustus, dem es nicht um die Nachfolge des Traumvaters, sondern allein um die Schlangenkrone ging, wirkte betroffen, als er das Gespräch der beiden verfolgte. Auch mich erschreckte, mit welcher Leichtfertigkeit Bosch und Nicholas über unser aller Tod sprachen. Wäre es nach Faustus gegangen, hätte nicht einer sterben müssen – nur die Krone, die wollte er für sich. Und das nach Möglichkeit, bevor sich der Mörder an ihm selbst oder an Angelina und mir verging. Deshalb mußte es sein Bestreben sein, herauszufinden, wer der Täter war, um so weitere Morde zu vereiteln. Wie er zugleich aber der Krone nachspüren wollte, war mir ein Rätsel.
»Ich glaube, wir sollten zurück auf unsere Zimmer gehen«, schlug mein Meister vor und blickte in die Runde. »Hier bleibt uns ohnehin nichts zu tun.«
Die Antwort aller war gemurmelte Zustimmung. Walpurga, Nicholas und Bosch verließen den Raum. Allein Ariane schien nach wie vor äußerst erregt.
»Ihr müßt ihn finden, Faustus«, sagte sie. »Er wird weiter morden. Ihr müßt ihm zuvorkommen!«
Faustus nickte gelassen, ohne ihr aber Hoffnung zu machen. Irgend etwas schien ihn zu beschäftigen, viel mehr, als der Gedanke an Braumeister oder an weitere Morde. Wie üblich verriet er es nicht, auch nicht, als er mit mir und Angelina die Treppe hinaufstieg. Er wünschte uns vielmehr eine gute Nacht, wies uns an, die Tür zu verriegeln, und zog sich in sein Zimmer zurück.
Als wir nebeneinander im Bett lagen, machte Angelina die Zeichen für »Frage« und für »schlafen«. Ich schüttelte den Kopf. Die Aufregung hatte mich hellwach gemacht.
Angelina aber kuschelte sich unter ihre Decke und schloß die Augen.
Kurz darauf legte sich ihre Hand auf meinen Oberschenkel, wie zufällig.
Ich lag endlos lange wach, während sie neben mir schlief, endlich ungestört, vielleicht sogar traumlos.
***
Ein Klopfen an der Tür weckte mich. Helligkeit fiel durch die Fenster. Staub tanzte auf Sonnenbahnen durch den Raum. Angelina streifte gerade ihr Hemd über die Schultern. Ehe ich mir den Schlaf aus den Augen blinzeln konnte, bedeckte der weiße Stoff schon ihre Brüste und Hüften. Erneut fragte ich mich, warum mich ihr Anblick neuerdings so gefangennahm. Etwas hatte sich zwischen uns verändert, das ließ sich nicht länger leugnen.
Es klopfte erneut, diesmal heftiger.
»Macht auf, schnell!« erklang dumpf die Stimme meines Meisters.
Angelina sprang zur Tür und schob den Riegel zurück.
Faustus trat ein.
»Es hat wieder einen Mord gegeben, heute nacht«, sagte er.
Ich saß sofort kerzengerade im Bett. »Wer ist es diesmal?«
Er senkte den Blick, beinahe, als träfe ihn dieser Tod ganz besonders. »Ariane«, erwiderte er. »Sie liegt in ihrem Bett. Jemand hat ihr
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