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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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beigebracht, Lateinisch zu sprechen, ohne sie aber das Lesen und Schreiben zu lehren – vielleicht fürchteten die Pfaffen, daß die Kinder ihre Lügen dann durchschauten. Hätten sie in der Heiligen Schrift oder in anderen Büchern lesen können, wären ihnen vielleicht Zweifel an den Worten der Geistlichen gekommen. Denn die Borgia-Engel hielten sich tatsächlich für Gottes Gesandte, vom Himmel herabgestiegen, um dem Papst als Krieger und Mörder zu dienen. Auf irgendeine Weise war es den Männern des Papstes gelungen, die Kinder so zu beeinflussen, daß sie ihre Kindheit und Entführung vergaßen; die möglichen Mittel dazu waren zahlreich, und Faustus hatte mir allein ein halbes Dutzend genannt.
    Angelina hatte seit dem mißglückten Anschlag auf die Wittenberger Schloßkirche, bei dem ihr Gesicht verbrannt war und sie Stimme und Schönheit verlor, viele dieser falschen Lehren durchschaut. Sie wußte, daß sie kein Engel, sondern ein Mensch war; sie hatte unter Mühen gelernt, ihre Muttersprache zumindest zu verstehen, wenn auch nicht zu schreiben oder gar zu sprechen; und sie hatte begriffen, daß ihre wahren Gegner nicht wir oder andere Feinde der Kirche waren, sondern die Päpstlichen selbst, jene Männer, die sie dreizehn Jahre lang gefangen gehalten hatten.
    Die Gruft in Verbindung mit Boschs Gebet mußte die Erinnerung an die Schrecken ihrer Jugend, die doch nur wenige Monate zurücklagen, erneut heraufbeschworen haben. Da war es nicht verwunderlich, daß sie die Flucht aus der entsetzlichen Kammer ergriff.
    Wir saßen noch immer schweigend auf der Treppe, mein Arm um ihre Schulter, als die Traumschüler aus den Kellergewölben heraufstiegen. Nicholas murmelte leise etwas vor sich hin, als er uns erblickte, und grinste hinterlistig, ging aber ohne weitere Worte an uns vorbei. Walpurga würdigte uns keines Blickes, nur Bosch schaute einen Moment lang besorgt auf Angelina, verzichtete jedoch ebenfalls darauf, uns anzusprechen. Faustus kam als letzter, er blieb bei uns stehen und wartete, bis die anderen weiter oben verschwunden waren.
    Er wollte nicht wissen, was geschehen war. Gewiß ahnte er es ebenso wie ich selbst.
    Statt dessen fragte er nur: »Was habt ihr in den beiden letzten Tagen gegessen?«
    »Den kümmerlichen Rest unseres Proviants«, erwiderte ich.
    Er nickte. »Es gibt frische Vorräte hier im Schloß. Der Traumvater gewährt uns offenbar ein Gnadenbrot, bevor er uns zur Schlachtbank führt.« Er lächelte grimmig, während er das sagte, und mir schien fast, als belustigte ihn die Vorstellung wirklich. »Wenn ihr also Hunger habt«, fügte er hinzu, »kommt heute abend in den Bankettsaal im Erdgeschoß.«
    Kein Wort mehr davon, uns im Zimmer einzusperren. Sicher war auch Arianes Tür verriegelt gewesen.
    Faustus schritt die Stufen hinauf und war fort.
    Ich überlegte, wie einfach es sein mußte, unser aller Essen zu vergiften, doch im selben Moment spürte ich wieder Angelina in meinem Arm, und sogleich galt mein Denken ihr allein.
     
    ***
     
    Als wir kurz darauf auf dem Weg nach oben den ersten Stock erreichten, faßte ich den Entschluß, noch einmal einen Blick in Arianes Zimmer zu werfen. Falls ihre Tür wirklich verschlossen gewesen war, mußte der Mörder auf andere Weise in den Raum gelangt sein. Angelina war einverstanden, mich zu begleiten, und so gingen wir gemeinsam den Gang hinunter, vorbei an den Zimmern, in denen sich die anderen längst wieder verkrochen hatten.
    Arianes Tür war nur angelehnt. Dahinter war ein Rascheln zu hören, dann nur noch Stille.
    Ich wechselte einen vorsorglichen Blick mit Angelina, doch ihre Panik schien überwunden. Sie war bereit, sich auf denjenigen zu stürzen, der sich im Zimmer zu schaffen machte. Natürlich lag der Verdacht nahe, daß es Faustus war, der den Schauplatz des Mordes erforschte. Doch mein Meister war hinauf in den zweiten Stock gegangen; seine Schritte waren auf der Treppe zu hören gewesen. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, daß er erst nach oben gestiegen und später auf leisen Sohlen zurückgekehrt war.
    Vorsichtig legte ich meine Hand auf das kühle Holz der Tür und drückte. Mit einem kaum hörbaren Knirschen schwang sie nach innen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Angelina sich straffte.
    Der Raum war unverändert, zumindest auf den ersten Blick.
    Das Bett war blutig und zerwühlt. Rund um den Pfosten, auf dem Arianes Schädel gesteckt hatte, war die Decke voller Flecken wie von blutigen Fußabdrücken. Fliegen bedeckten

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