Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger
Bretterstapel, Balken und Steinhügel. Hier und da hatten Steinmetze Statuen abgestellt, Gestalten mit blicklosen Gesichtern, über die sich das Mondlicht wie ein Schleier aus Milch ergoss. Von meinem Standort aus konnte ich mehr als ein Dutzend dieser erstarrten Gestalten erkennen, rechts und links des freien Mittelweges.
Angelina war nirgends zu sehen. Ich vermutete schon, dass sie sich irgendwo in den Schatten verbarg, als ich mit einem Mal einer Bewegung gewahr wurde, am anderen Ende des Kirchenschiffs. Zwischen den vier Säulen!
Sie war es. Es gab keinen Zweifel. Eine schmale Gestalt in einem hellen Hemd und engem, dunklem Beinkleid. Sie hatte die Ledermaske abgenommen, und selbst von hier aus glaubte ich die Verwüstungen ausmachen zu können, die das Feuer in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Sie wirkte sehr klein, sehr verletzlich, so ganz allein am Fuß der titanischen Säulen.
Sie stand einfach nur da und schaute an den Säulen empor. Dabei kümmerte sie sich nicht um die hölzerne Abdeckung zu ihren Füßen, unter der ein Schacht hinab zur Petrusgruft führte. Ihre Ehrfurcht galt etwas ganz anderem, einem Bild in ihrer Erinnerung, dem ersten Mal, als sie an diesem Ort gestanden hatte, als kleines Kind, gebannt von der schieren Größe und Baugewalt der Basilika.
Ihre Haltung, ja, ihre schiere Anwesenheit an diesem Ort strahlte etwas Rituelles aus, eine Geste des Wiedererkennens und der Demut, so als hätte alles andere um sie herum aufgehört zu existieren. Ich hatte schon bei unserer gemeinsamen Ankunft auf dem Bauplatz bemerkt, dass sie immer wieder verstohlene Blicke zur Ruine der Basilika geworfen hatte, doch da hatte sie sich noch zurückgehalten, vermutlich, um unsere Tarnung nicht zu gefährden. Jetzt aber stand sie ihrer eigenen Vergangenheit gegenüber und war ganz davon gefangen. Gut möglich, dass sie beim Anblick der zerstörten Basilika eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckte, einst ein erhabenes Geschöpf, jetzt ein Krüppel, der sich vor dem Spott der Menschen hinter einer Maske verstecken musste. Auch dieses Gotteshaus war einst schön und prachtvoll gewesen, während jetzt nicht viel mehr davon übrig war als ein Wrack, das man plünderte, um etwas vollkommen Neues daraus zu machen.
Angelinas Anblick schmerzte mich, und ihre Melancholie sprang selbst aus dieser Entfernung auf mich über. Sie hatte mich noch nicht gesehen, und das war gut so. Um nichts in der Welt wollte ich sie in diesem Augenblick stören, so ganz allein mit sich selbst, so gänzlich im Netz ihrer Erinnerungen verstrickt.
Und dann sah ich die anderen.
Wir waren mitnichten allein. Die Basilika und der Weg zum Grab wurden sehr wohl bewacht – wenn auch nicht von Gardisten, wie ich vermutet hatte.
Auf den Gerüsten und Mauern saßen Engel.
Kauerten wie Vögel, abwartend, während ihre dunklen Gewänder zu beiden Seiten ihrer Körper herabhingen wie lahmgewordene Schwingen. Ich zählte fünf von ihnen, doch weitere verbargen sich vermutlich in den Schatten.
Ich zog mich zurück, ehe sie mich entdecken konnten.
Doch warum sahen sie Angelina nicht, so wie sie dastand am Fuß der Säulen, ganz offen und schutzlos?
Mir fielen nur zwei Möglichkeiten ein. Die eine war, dass es ihr tatsächlich gelungen war, an ihnen vorüberzuschleichen und sie mit den eigenen Waffen zu schlagen – mit dem übermenschlichen Geschick, das die Borgia-Engel den gewöhnlichen Sterblichen voraus hatten. Sie erwarteten nur Menschen – keine ebenbürtigen Angreifer. Vielleicht hatte sie das nachlässig gemacht.
Die zweite Möglichkeit war ungleich erschreckender. Wussten die Engel, dass Angelina heimgekehrt war? Und gestatteten sie ihr diesen letzten Moment der Einkehr und des Friedens aus Respekt vor einer verschollenen Schwester? War es nur noch eine Frage der Zeit, ehe sie sich mit flatternden Mänteln und blitzenden Klingen auf sie stürzten?
Mir rann der Angstschweiß in Strömen übers Gesicht. Was konnte ich tun? Mich zu erkennen geben und die Engelskrieger von Angelina ablenken, um ihr so vielleicht die Flucht zu ermöglichen?
Aber wollte sie denn überhaupt fliehen? Vielleicht hatte sie endlich Frieden gefunden, hier an diesem Ort, der einstmals ihre Heimat war.
Je länger ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien mir dieser Gedanke.
Und dennoch – es durfte nicht sein! Ich würde nicht zulassen, dass sie Angelina ein Leid zufügten, ganz gleich, was diese Entscheidung für mich selbst
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