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Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unter meinem Stiefel in seine Bestandteile auflöste; mein anderer Fuß bohrte sich in einen Rippenkäfig, morsch geworden vom Wasser und den Zähnen der Aasfresser.
    Und dann, als ich meine Sinne gerade genug beisammen hatte, um mir bewusst zu werden, dass ich nicht von Toten in die Tiefe gezerrt oder von Ratten bei lebendigem Leib gefressen wurde, schaute ich auf – und sah etwas auf mich herabstürzen.
    Groß. Schwarz. Flatternd.
    Der tote Borgia-Engel traf mich am Kopf und warf mich zurück. Sein Gewicht drückte mich unter Wasser. Dann wurde für eine Weile alles dunkel um mich herum, und als ich die Augen wieder aufschlug, zerrte mich Angelina gerade über eine schmale Rampe ins Trockene. Ich blickte an mir herab und sah, dass ich über und über beschmiert war – mit Schlamm und Schlimmerem. Angelina bemerkte, dass ich unversehrt war und umarmte mich stürmisch. Der Schmutz und die widerlichen Überreste der Leichen kümmerten sie nicht, als sie sich an mich drückte und mir einen langen Kuss auf die besudelten Lippen gab.
    Ehrlich gesagt, wusste ich kaum, wie mir geschah, und dann, als sie mich losließ, wagte ich nicht, mir den Schmutz vom Gesicht zu wischen, aus Angst, sie könnte meinen Ekel missverstehen. Dabei hätte ich kaum verwirrter sein können durch dieses Ebenmaß an Glück und Schrecken. Glück, weil sie ihre Gefühle so offen gezeigt hatte, und Schrecken über das, was wir gerade erlebt hatten.
    Sie ließ mir keine Zeit, über die Lage nachzudenken. Stattdessen zerrte sie mich auf die Beine und zeigte nach Süden. Ich verstand und nickte. Spätestens meine Schreie mussten andere Wächter auf uns aufmerksam gemacht haben. Und gewiss waren auch weitere Borgia-Engel unterwegs hierher. Wie viele hatte Angelina jetzt im Handstreich besiegt? Mindestens fünf! Wir erklommen weitere Erdhügel und überquerten dabei immer wieder ebene Flächen inmitten dieses Irrgartens aus Wällen, Steigungen und Abhängen. Nach der zweiten wurde mir klar, dass es sich um zugeschüttete Leichengruben handeln musste. Wie viele Menschenleben hatte der Bau der Kathedrale bereits gefordert? Und wie viele weitere Männer würden noch sterben, ehe die Kuppel des Petersdoms endlich an ihrem Platz ruhte?
    Meine Vorstellungskraft reichte nicht aus, mir all das Grauen vorzustellen, die Schmerzen, die Qual. Den Abgrund aus Dunkelheit unter dem hellen, strahlenden Antlitz der Kathedrale, die sich dereinst an diesem Ort erheben sollte.
    Wir erreichten den Rand des Bauplatzes an einer Stelle, an der keine Lagerfeuer brannten und keine Patrouillen auf und ab gingen. Angelina musste diesen Ort bereits auf dem Hinweg ausgekundschaftet haben. Hinter uns hörten wir Rufe, und ich sah ferne Fackeln in der Finsternis tanzen wie Irrlichter. Dennoch – unsere Verfolger waren viel zu weit hinter uns. Sie würden uns nicht mehr einholen.
    Ich vermutete, dass die Gardisten spätestens morgen früh damit beginnen würden, das Borgo Leonino zu durchstreifen. Unsere Spur war leicht zu verfolgen – ein Mann und eine Frau, zum Himmel stinkend nach Leichen und Tod. Man würde nach uns suchen, und wir mussten uns wohl oder übel damit abfinden, dass wir uns lediglich eine Gnadenfrist verschafft hatten. Blieben wir länger in der Stadt, würde man uns früher oder später fangen.
    Meinem Meister würde das nicht gefallen. O nein, ganz gewiss nicht.
    Während wir nebeneinander eine Gasse hinabstürmten, warf ich immer wieder verstohlene Blicke zu Angelina hinüber. Sie hatte ihre Maske übergestreift und blickte starr geradeaus. Ich fragte mich, was hinter diesem Gesicht aus Leder und Narbengewebe vorging. Was dachte sie? Was fühlte sie? Sie hatte mir gerade das Leben gerettet. Und sie hatte mich geküsst. Muss ich beschreiben, was in mir vorging?
    Wir drangen tiefer in das Gewirr des Borgo ein, passierten in einem wirren Zickzack Gassen und Plätze, um unsere Gegner irrezuführen. Mein eigener Gestank machte mir mehr zu schaffen, als ich mir eingestehen wollte. Angelina ertrug den fauligen Odem mit stoischer Gelassenheit; ich aber kämpfte immer wieder mit heftigem Würgereiz und dem Drang, mir alle Kleider vom Leib zu reißen. Ich ekelte mich vor mir selbst und hätte heulen können vor Übelkeit.
    Als wir genügend falsche Fährten gelegt hatten, traten wir über verlassene Höfe und durch dunkle Schneisen den Rückweg zum Gasthof an.
    Bei unserer Ankunft fanden wir Zimmer und Dach verlassen vor.
    Faustus war fort.
    Roms Glocken läuteten

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