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Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wachsamen Blicken der anderen begann ich, die schwärende Wunde mit meiner Salbe zu bestreichen. Das Engelsmädchen zuckte zusammen, als mein Finger seine weiße Haut berührte, doch es hielt still und wehrte sich nicht. Als ich fertig war, hatte ich einen kleinen Rest übrig. Das Mädchen kleidete sich wieder an und schien sichtlich erleichtert. Ich wusste, dass sein Schmerz jetzt nachließ, die Kühlung musste bereits eingesetzt haben. Ich schob den Korken wieder auf das Fläschchen und reichte es dem Mädchen.
    »Hier, ein Rest ist noch da. Warte einen Tag und benutze ihn dann.« Ich wusste, dass die Entzündung damit nicht völlig kuriert werden konnte. Zumindest aber würde ihr die Salbe ein wenig Erleichterung bringen und den Schmerz erträglicher machen.
    Das Mädchen bedankte sich auf Latein und schenkte mir ein scheues Lächeln. Auch der Wortführer der Engel nickte mir zu, ohne seine ernste Miene zu verlieren.
    Ich hielt wieder Ausschau nach Angelina und entdeckte sie am anderen Ende der Halle. Sie stand am Fuß einer steinernen Engelsstatue mit ausgebreiteten Flügeln, dreimal mannshoch und mit einem mächtigen Schwert in Händen. Es gehörte nicht viel dazu, mir vorzustellen, wie die Lehrmeister der Engelskinder ihre Schützlinge Tag für Tag vor diese Statue geführt hatten, um ihnen zu zeigen, was sie einmal sein sollten. Der Anblick der leblosen Augen in dem gleichgültigen Gesicht aus Granit ließ mich schaudern.
    Zögernd löste ich mich aus dem Kreis der vier Eluciderii. Ich war nicht sicher, ob sie mich gehen lassen würden, doch sie machten keinerlei Anstalten, mich zurückzuhalten. Erst langsam, dann immer schneller durchquerte ich die unterirdische Ausbildungshalle und trat neben Angelina. Diesmal war ich es, der nach ihrer Hand griff, und sie ließ es ohne jede Regung zu. Ihre Finger waren sehr kalt.
    »Sollte das aus euch werden?«, fragte ich. »Haben sie euch das eingeredet?«
    Sie nickte beklommen.
    »Und die Flügel?« Es war alles nur Mutmaßung, trotzdem musste ich meine Gedanken aussprechen.
    »Haben sie euch in dem Glauben aufgezogen, auch euch würden Flügel wachsen, wenn ihr eure Lehrzeit beendet habt?«
    Diesmal zögerte sie, bevor sie schließlich einmal kurz nickte.
    Es war unglaublich, und doch nachvollziehbar. Die Kinder waren im Alter von wenigen Jahren aus ihrer Heimat entführt und hierher gebracht worden. Danach hatte man keinen Tag verstreichen lassen, ohne sie den Lügen des Borgia auszusetzen, bis sie ihnen schließlich in Fleisch und Blut übergingen. Sie waren überzeugt gewesen, Auserwählte zu sein, wahre, leibhaftige Engel. Und sie hatten geglaubt, dass sie in ihren Rücken Flügelwurzeln trugen, aus denen dereinst Schwingen sprießen würden. Selbst zuletzt hatten die anderen Eluciderii noch fest daran geglaubt, als sie sich die Rücken aufschnitten, um die Wurzeln zu zerstören und so zu gewöhnlichen Menschen zu werden. Wie grausam mussten die Männer sein, die kleinen Kindern einen solchen Irrglauben eingepflanzt hatten?
    Aber, so dachte ich, war es nicht das, was die Kirche seit jeher tat – anderen ihren Glauben aufzuzwingen, ganz gleich, wie groß die Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten auch waren? Was machte es für einen Unterschied, einem Kind den Glauben an die Existenz von Engeln zu predigen, oder aber ihm zu versichern, dass es selbst einer sei? Die Grenze war so fließend wie bedeutungslos.
    Ich stand da und starrte gemeinsam mit Angelina an der titanischen Engelsstatue empor, als sie sich mit einem Mal umwandte, ohne ihre Hand der meinen zu entziehen. Ich ging mit ihr zurück zu den anderen Engeln, die uns aufmerksam beobachteten. Erst, als wir wieder vor ihnen standen, ließ Angelina mich los, trat vor jeden einzelnen ihrer Brüder und Schwestern, umarmte sie alle und küsste sie auf die Stirn.
    Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Das Zuhause, das sie gekannt hatte, existierte nicht mehr. Mochten die anderen einer Vergangenheit nachlaufen, die längst zum Traumgespinst geworden war, einem lange vergangenen Ideal – Angelina wollte ihren eigenen Weg gehen, losgelöst von dem, was gewesen war.
    Der Wortführer wollte auf sie einreden, sie überzeugen zu bleiben, doch Angelina brachte ihn mit einem sanften Kopfschütteln zum Schweigen. Wieder küsste sie ihn, dann wandte sie sich ab.
    Ich nahm die Fackel auf, und wir verließen die Halle. Niemand folgte uns.
    Noch einmal blickte ich zurück, sah, wie sich die abtrünnigen Engel in einem Kreis

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