Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger
überlegte, ob die Jahre im Körper eines hilflosen Kindes den Borgia nicht endgültig in den Wahnsinn getrieben hatten. Doch wenn er ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass Alexander einen klareren Eindruck machte, als er erwartet hatte. Er war kein kreischender Irrsinniger, der mit jedem Satz ein Todesurteil aussprach. Nein, der Wahnsinn des Borgia saß tiefer. Es gehörte nicht zu seinem Plan, sein wahres Gesicht zu zeigen. Die Hässlichkeit im Herzen dieses Mannes war mit bunten, leuchtenden Farben übertüncht.
»Ich gedenke nicht, meine Hand gegen Euch zu erheben«, versicherte ihm Faustus. »Ich vermeide dumme Fehler, wenn ich kann.«
»Ihr habt Asendorf getötet.«
»Was Euch gewiss gelegen kam.«
»Ich hätte ihn jederzeit mit einem einzigen Befehl beseitigen können.«
Faustus nickte. »Aber Euch hat die Vorstellung gefallen, zwei Todfeinde zusammenzuführen und zu sehen, was geschieht. Ich hoffe, das Schauspiel hat Euch nicht enttäuscht.«
»Asendorf ist tot. Ich bezweifle, dass er es als Schauspiel bezeichnet hätte.«
»Für Euch war es eines.«
Der Junge grinste fröhlich. »Oh, Faustus, Ihr kennt mich besser als ich mich selbst. Das gibt unserem Zusammentreffen eine ungeahnte Würze, findet Ihr nicht?«
»Ist Spott denn wirklich Eure stärkste Waffe?«, fragte Faustus und fügte abschätzig hinzu: »Abgesehen natürlich von all Euren Bogenschützen, die gewiss alle Mühe haben, nicht vom Dach zu fallen, so eng, wie sie sich dort oben drängeln.«
»Ihr habt sie bemerkt?« Alexander wirkte enttäuscht. »Nun, auch das spielt keine Rolle.« Faustus folgte dem Blick des Jungen hinauf zum Rand der Dächer über dem Innenhof. Dort oben war niemand zu sehen. Dennoch hatte es für ihn nie Zweifel gegeben, dass man ihn von dort aus im Auge behielt – über die Pfeilspitze eines gespannten Bogens hinweg. Eine falsche Bewegung in die Richtung des Borgia, und man würde ihn mit einem Dutzend Pfeilen spicken.
»Also?«, fragte er. »Weshalb bin ich hier?«
»Ich wollte Euch kennen lernen«, sagte Alexander. »Doktor Faustus, den weltberühmten Schwarzkünstler, den Quellbrunn der Nekromanten, den Zweiten unter den Magiern, den Astrologen, Chiromanten, Aeromanten, Geomanten, Pyromanten und Hydromanten.«
Er grinste erfreut. »Das war die ganze Liste, oder habe ich etwas vergessen?«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre.«
»Erlaubt mir, dass ich Euch eine Frage stelle, die mir schon lange auf der Zunge brennt.«
»Gewiss doch«, erwiderte Faustus liebenswürdig.
»Warum eigentlich der Zweite unter den Magiern? Wer ist dieser vermaledeite Erste, dem Ihr Euch so bereitwillig unterordnet?«
Faustus lächelte. »Vielleicht der Trumpf in meinem Ärmel?«
Der Junge sah ihn einige Herzschläge lang ausdruckslos an, so als müsste er tatsächlich überlegen, wie die Worte des Doktors gemeint waren. Dann erkannte er sie als das, was sie waren: »Ihr droht mir?«
Faustus lächelte nur.
Alexanders Mundwinkel zuckten, und seine Augenlider klimperten schneller. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Aber … Faustus! … Ich meine, was redet Ihr da? Ihr seid mein Gefangener! Und da habt Ihr die Dreistigkeit …«
»Die Höflichkeit«, unterbrach ihn der Doktor. »Und zwar, Euch auf ein mögliches Missgeschick hinzuweisen.«
Der Junge trat einen Schritt zurück, nicht ängstlich, eher verwirrt, so als wollte er sein Gegenüber noch einmal einem genaueren Blick unterziehen. Dabei stieß er mit der Schulter gegen die Rinde des Baumstamms. Sofort rieselte von oben weißer Blütenflaum herab. Das Gesicht des Jungen verzog sich vor Schmerz, und Faustus sah, dass seine Haut dort, wo sie das Holz berührt hatte, aufgeschürft war. Eine Unzahl winziger Blutpunkte sprenkelte seine nackte, weiße Schulter.
»Ihr habt empfindliches Fleisch«, bemerkte der Doktor.
Zorn verzerrte für einen kurzen Moment das Statuengesicht des Jungen, doch er fing sich sogleich wieder, und abermals formten seine Lippen ein freundliches Lächeln. Nur seine Lippen. Faustus fiel auf, dass der Junge niemals mit den Augen lachte.
»Es ist nur Blut«, sagte Alexander gelassen.
»Ihr meint: Nicht das Eure.«
»Irgendwann wird es einen anderen Körper geben.«
»Wie oft wird Euer Geist es verkraften, vom reifen Mann zum Kind zu werden?«, fragte Faustus bohrend.
An einem Glimmen in den meerblauen Augen erkannte er, dass er einen wunden Punkt des Borgia getroffen hatte. Vielleicht den wunden Punkt.
»So oft es
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