Die neue Lust am Essen: Vom Laster Nikotin und Fastlife zu Lebensgenuss und Slow Food (German Edition)
Kleinstadt so ist, und wir kamen ins Gespräch. Dabei entdeckten wir nicht nur die gemeinsame Freude an der Gartenarbeit, sondern auch, dass wir beinahe Nachbarinnen waren. Also schlug ich ihr vor, die Rose und mich bei Gelegenheit besuchen zu kommen, was sie tatsächlich ein paar Wochen später tat. Seither pflegen wir eine lockere Freundschaft und versorgen einander von Zeit zu Zeit mit verheißungsvollen Tipps für ein prächtiges Grün.
Sich mit Betty zu verabreden, ist allerdings wahrlich kein Honiglecken, denn Betty hat nicht nur Haus und Garten, die Katze und die Firmenkonten ihres Mannes zu betreuen, sie hat auch zwei Kinder im Pflichtschulalter, und vor allem hat sie ein lausiges Zeitmanagement. Immer läuft sie ihren Terminen hinterher, in einer Art permanentem Jetlag mit sich selbst. Und so kann es schon vorkommen, dass uns das schrille Klingeln ihres neuesten Smartphones aus einem Fachgespräch über umweltfreundliche Schädlingsbekämpfung reißt, weil Sohn Stefan nicht mehr länger vor der Schule warten will und vehement den Taxidienst seiner Mutter einfordert, während Tochter Lore gerade lässig mit den Tanzschuhen winkt und in schnippischem Ton daran erinnert, dass eigentlich sie jetzt an der Reihe wäre. „Und wer, bitte, bringt mich zum Ballettunterricht?“
Betty hat also wieder einmal die Zeit vergessen, einen Termin verschusselt, wie sie das nennt. Sie ist gesellig, hilfsbereit, macht überall mit – und kommt immer zu spät. Ihre Familie und ihre Freunde haben sich wohl oder übel damit abgefunden und sogar die Katze scheint zu wissen, was sie anstellen muss, um halbwegs regelmäßig gefüttert zu werden.
Einmal versuchte Betty, sich selbst zu überlisten, indem sie die Uhr vordrehte, um sich so einen gewissen Zeitpolster zu verschaffen, aber ihr scharfer Verstand durchschaute das fadenscheinige Manöver sofort und ignorierte die falsche Uhrzeit. Also hechelt Betty immer noch ihren Terminen hinterher und bekennt zwischendurch händeringend: „Ich bin im Stress!“
Karoline, die pensionierte Juristin, führt seit Jahren ein ähnlich ruheloses Leben, wenn auch aus anderen Gründen.
Jahrzehntelang vertrat sie an der Wirtschaftskammer die Interessen kleiner Unternehmer, lebte quasi für die Menschen, die ihre Hilfe benötigten, und investierte all ihre verfügbare Zeit in den Beruf.
Dann kam der Moment der Pensionierung und Karoline musste die bittere Erfahrung machen, nun völlig alleine dazustehen, ohne die Menschen, die ihr im Laufe der Zeit wie eine Familie ans Herz gewachsen waren. Sie fühlte sich plötzlich nutzlos, sah keine Zukunftsperspektiven mehr und kämpfte bald mit massiven depressiven Verstimmungen. Anfangs versuchte sie noch, auf Reisen der täglichen Tristesse zu entgehen, aber unter all den fröhlichen Menschen, die so ungeniert ihr Dasein genossen, fühlte sie sich nur noch einsamer als in ihrem gepflegten Zuhause, wo es wenigstens keine Zeugen ihrer Einsamkeit gab und sie in Sicherheit war.
Eine Weile lebte sie mehr schlecht als recht in diesem Zustand, dann starb ihre Mutter, die in letzter Zeit in einem Pflegeheim betreut worden war, wodurch Karoline Einblick in die Tätigkeit der freiwilligen Helferinnen und Helfer bekommen hatte, die sie seither für deren Einsatz zutiefst bewunderte. Das weckte in ihr den Wunsch, sich selbst in diesem Bereich zu engagieren. Mit Menschen zusammenkommen, sie unterstützen, ihnen behilflich sein – das wollte sie gerne machen.
Karoline absolvierte in Rekordzeit alle notwendigen Schulungen und begann mit der Begleitung unheilbar Kranker. Die neue Aufgabe bereitete ihr viel Freude und vertrieb die Einsamkeit. Karoline hatte wieder das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas wert zu sein. Sie machte Besuchsdienste, kleine Ausfahrten mit dem Rollstuhl, Spaziergänge, wenn es noch ging, hörte geduldig zu, las Gedichte vor oder Artikel aus der Tageszeitung.
Nach und nach steigerte sie ihren Einsatz, verbrachte immer mehr Zeit im Pflegeheim, sprach bald nur noch von ihren Schützlingen und hatte dennoch das Gefühl, viel zu wenig für sie tun zu können. Binnen kurzer Zeit entwickelte sie ein ausgeprägtes Helfersyndrom und litt immer öfter an Erschöpfungszuständen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie versuchte zwar noch eine Zeitlang, so weiterzumachen wie bisher, aber da war sie bereits am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper reagierte auf den permanenten Überdruck schließlich mit mehreren Magengeschwüren, die sie in eine Auszeit
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