Die neue Lust am Essen: Vom Laster Nikotin und Fastlife zu Lebensgenuss und Slow Food (German Edition)
ganz wie ein weitblickendes Eichhörnchen mit seinen Nüssen – stets für reichlichen Vorrat. Aus meiner jungen Leidenschaft wurde bald eine feste Beziehung, eine dauerhafte, unerschütterliche Langzeitliebe.
Mittlerweile kam ich auf mindestens 15 Zigaretten am Tag, verschwendete aber keinerlei Gedanken an eventuelle Risiken meines Tuns. Lediglich meine Mutter blickte besorgt auf mein Treiben und riet mir von Zeit zu Zeit, es lieber sein zu lassen. Doch es ist nicht Sache der Jugend, sich um die eigene Gesundheit zu sorgen, und der Umstand, dass praktisch überall geraucht werden durfte, verstärkte in mir noch dieses Gefühl von Freiheit, einfach Spaß zu haben und zu genießen. So durchlebte ich eine in vielerlei Hinsicht idyllische Zeit.
Ich konnte essen, was ich wollte – ich nahm dabei kein Gramm zu und passte je nach Anlass spielend in enge Hosen, taillierte Kleider oder knappe Bikinis der Konfektionsgröße 38. Ich konnte rauchen, wo ich wollte, denn überall standen Aschenbecher herum, die es mir leicht machten, das Feuer meiner Liebe zu schüren. Sobald sich irgendwo eine Pause auftat, ein unerwarteter Leerlauf im Tagesprogramm, hatte ich eine Zigarette zwischen den Fingern und bald zwischen den Lippen. Das Nikotin breitete sich in meinem Körper aus, floss in die entlegensten Orte und erzeugte überall Wohlbehagen. Ich fühlte mich entspannt, von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln in einem überaus angenehmen Zustand sinnlicher Befriedigung.
Und der Marlboro Man lächelte dazu.
Neues aus Übersee
Ende der 1970er-Jahre begann eine Entwicklung, die man wohl nur die „Amerikanisierung unseres Lebensstils“ nennen kann, der ab sofort Lifestyle hieß. Auf den ersten Blick brachte der Trend aus Übersee frischen Wind nach Europa, in Wahrheit sägte er aber mächtig an unserer Lebensqualität und vor allem an der Qualität unseres Essens.
Unsere lokale Gastronomie bekam massiv Konkurrenz durch Fast-Food-Läden, schlabbrig-weiche Burger und maschinell vorfabrizierte Hot Dogs kratzten am Image der stets knackigen Leberkäsesemmel und der klassischen Burenwurst.
Das Soft-Futter made in USA, kombiniert mit übersüßten Soft-Drinks, begeisterte vor allem die ganz Jungen unter uns – mit verheerenden Folgen, wie wir heute wissen.
Anfang der 90er-Jahre – unsere Schule und meine Lehrerkarriere waren mittlerweile schon fast 20 Jahre alt – begannen sich die ersten Nebenwirkungen des neuen Lifestyles abzuzeichnen. Während ich dank meines äußerst konsequenten Zigarettenkonsums von ca. zwei Päckchen am Tag und trotz beharrlicher Sportverweigerung so schlank wie eh und je war, wurden die mir anvertrauten Jugendlichen, meine Fast-Food-Kids, immer runder und begannen auch konditionell zu schwächeln. Es sah ganz so aus, als hätten wir keine Chance gegen den Megatrend aus Übersee, und irgendwann gewöhnten wir uns wohl an das neue Einheitsfutter und griffen immer öfter zu, was ja ganz leicht war.
Überall schossen Self-Service-Lokale aus dem Boden und in den Supermärkten wurden die Regale für Fertigprodukte immer länger und immer dichter gefüllt, so dass die meisten von uns den neuen Trend bald eher praktisch als gefährlich fanden.
Aber nicht nur unser Essen, auch unsere Sprache änderte sich. Immer mehr Ausdrücke aus dem Englischen drängten in unseren Alltag und waren plötzlich „in“, ebenso wie ein Phänomen, das wir endlich benennen konnten: Stress!
Volksseuche Stress
Es ist schon erstaunlich, wie schnell eine Sache ins öffentliche Bewusstsein rückt, wenn man sie oft genug beim Namen nennt. So hatte man es neuerdings nicht mehr eilig oder war vielleicht einmal nur etwas spät dran – das klang ja total verstaubt, verzopft, gestrig – ab sofort war man im Stress. Stress war plötzlich überall, verschonte kaum jemanden und galt als Erklärung und Entschuldigung für Vieles.
Unser Lifestyle nach amerikanischem Vorbild lief in rasendem Tempo ab und wir begannen jetzt auch, den Preis dafür zu zahlen. Obwohl anfangs noch gar nicht klar war, was da eigentlich mit uns geschah, wussten wir doch, dass es etwas mit Zeitnot zu tun hatte. Unsere Pläne und die dafür verfügbare Zeit passten nicht mehr zusammen und das Wissen, es nicht schaffen zu können, erzeugte unangenehmen Druck.
Zwar fühlte ich mich persönlich eher selten gestresst und hatte auch mein Zeitmanagement ganz gut im Griff, wie mir schien, die Sache beschäftigte mich aber dennoch, da Stress an der Schule immer mehr
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