Die neue Lustschule
dass dies bereits Missbrauch sein könnte. Aber Missbrauch entsteht durch die Intention sowie die Art und Weise der Berührungen. Ob Vater oder Mutter selbst bedürftig oder einsam sind und sexuell orientierte Bedürfnisse an das Kind richten oder ob es um liebevolle Zuneigung zum Kind und zu seinen Bedürfnissen geht – das macht den entscheidenden Unterschied!
Das Kind braucht beständigen Körperkontakt, den die Eltern zur Verfügung stellen sollten, aber für ebensolche Berührungswünsche von Erwachsenen dürfen Kinder nicht ausgebeutet werden. Das müssen sich die Erwachsenen schon untereinander gewähren. Kinder sollten hingegen erfahren dürfen, dass die Eltern ihre erkundenden und lustorientierten Selbstberührungen gutheißen. Wenn Kinder liebevoll angefasst werden, erfahren sie Zuneigung unmittelbar körperlich. Sie werden dadurch auch angeregt, sich selbst zu berühren. Und wenn sie dabei ihre Genitalien streicheln oder reiben, dürfen Eltern getrost freundlich zustimmen: «Ja, das ist ein schönes Gefühl!» Und je nach Alter und interessierten Fragen können Hinweise gegeben werden, dass die Eltern, wenn sie Sex machen, sich auch zärtlich berühren. Solange es keine klaren Worte und keine selbstverständliche Sprache für körperliche und genitale Wahrnehmungen und Empfindungen gibt, ist eine lustorientierte Verständigung kaum möglich. Stellen Sie sich z.B. folgende Aussagen vor: «Mir gefällt es sehr, wenn du mit deinem Finger meinen Scheideneingang berührst und etwas nach unten drückst(auf die Damm-Muskulatur).» Oder «Ich möchte, dass du ganz leicht und zärtlich über die Innenseiten meiner Oberschenkel und Hoden streichst, das ist ein wunderbares Gefühl!» – und urteilen Sie selbst, wie selbstverständlich solche und ähnliche Mitteilungen für Sie sind.
Eine erotisch-sexuelle Sprache zu erlernen, die aus der Selbsterfahrung erwächst und eigene Wahrnehmungen, Wünsche, aber auch Unangenehmes kommuniziert, ist der erste Schritt auf dem Weg, die eigenen Lusterfahrungen in die Partnerschaft einzubringen und im gemeinsamen Interesse weiter auszubauen.
Eine zentrale Stellung kommt dabei der Auseinandersetzung mit der eigenen Scham zu, soweit sie das Ergebnis von Einschüchterung und Demütigung seitens der Eltern oder anderer Erziehungspersonen ist. Leider genügt es dafür meistens nicht, erwachsen geworden sowie eine liberalere Einstellung zu Selbstbefriedigung, Lust und Sexualität gewonnen zu haben. Die frühen Erfahrungen wirken leider in der seelischen Tiefe fort.
Ein Erwachsener, der als Kind nicht ausreichend geliebt worden ist, wird dazu neigen, sich selbst als nicht liebenswert einzuschätzen, und das heißt in der Regel auch, nicht «lustwert» zu sein. Eine entwickelte Lust würde das negative Selbstbild erschüttern; statt des Gefühls der Befreiung von einer Fehleinschätzung würde sie aber womöglich die erlittene Lieblosigkeit reaktivieren. Doch es kann sich auch das Gegenteil davon, Sexsucht und beziehungslose Promiskuität, entwickeln, um den seelischen Liebesmangel mit körperlicher Lust zu kompensieren. Dann wird die Körperlust von der Beziehungslust abgekoppelt, und es entsteht eine geile Lust, die sich an keine und sei es noch so herzliche Beziehung gebunden weiß. Der Sex kreist dann um sich selbst, ohne so etwas wie erlösende Entspannung zu kennen.
In jeder zwischenmenschlichen Beziehung werden Übertragungen «getriggert», was heißen soll, dass in gegenwärtigen Beziehungen abgelagerte Beziehungserfahrungen mit den prägenden Pflegepersonen der ersten Lebensjahre wiederbelebt werden. Die «Urbeziehungen» bilden sozusagen die Schablone, mit der spätere Beziehungen erlebt, bemessen, bewertet und notfalls auch entsprechend manipuliert werden. Deshalb sind gute frühe Beziehungserfahrungen ein Segen für das spätere Leben: Alle konfliktreichen Beziehungen werden dann als prinzipiell lösbar erlebt. Schlechte frühe Beziehungserfahrungen sind hingegen ein Fluch, weil alle Beziehungen, auch die besten und gerade diese, dann nur negativ erlebt werden können und mit Verdächtigungen belastet oder sogar durch Provokationen zerstört werden müssen.
Für den Umgang mit der Lust ist es von großer Wichtigkeit, die Übertragungstendenz, die das eigene Leben bestimmt, und die konkreten, von Übertragungen bestimmten Erwartungen und Reaktionen in Beziehungen zu kennen. Lust braucht einen möglichst unbeeinflussten, unverzerrten und ehrlichen Umgang mit sich selbst
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