Die neue Lustschule
und gedeiht am besten unabhängig von Erwartungen, Forderungen, Einschüchterungen, Geboten und Verboten, in denen sich Übertragungen ausdrücken. Wie sehe ich den anderen? Was erwarte ich vom Beziehungspartner? Was muss ich für ihn tun, und was will ich wirklich? Wie fühle ich mich bewertet? Wie verändere ich mich in Gegenwart eines anderen? Wie möchte ich gesehen und eingeschätzt werden, und wie möchte ich, dass der Beziehungspartner reagiert? Und was meine ich, wie über mich gedacht wird? All diese Fragen legen Antworten nahe, die Übertragungen darstellen. Man selbst ist dann das Abbild der frühen Beeinflussungen. In den Beziehungspartnern hingegen entdeckt man spezifische Eigenschaften, wieman sie z.B. von den Eltern kennt, und erwartet deshalb auch entsprechende Reaktionen, die oft weit von der Realität der gegenwärtigen Beziehung entfernt sind. Und es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu: Ohne dass es einem bewusst wird, gibt man nicht eher Ruhe, bis der andere die projizierten Erwartungen auch endlich erfüllt. Auf diese Weise reizt man einen an sich freundlichen Menschen so lange, bis er endlich so reagiert, wie man es ihm sowieso schon zugeschrieben hatte. Eine realitätsgerechte Wahrnehmung und die Freiheit der Beziehungsgestaltung werden dadurch beeinträchtigt. Vor allem aber wird die jeweilige Beziehung in dem, was an ihr einzigartig und unverwechselbar ist, durch die Übertragungsschablone auf die frühen Erfahrungen reduziert und damit so gut wie nivelliert. Vielen ist Lust nur noch eingeschränkt im Rahmen von Übertragungserfahrungen möglich, während jede Erweiterung als angstvoll und infolgedessen als lusttötend erlebt wird. Die Lust lebt dann eingesperrt im Käfig der frühen Erfahrungen, unterdrückt, eingeengt, verzerrt und mitunter auch pervertiert. So können Übertragungen einerseits Lust in begrenzter Form sichern und andererseits erheblich behindern. Die eigene Lust zu entdecken und zu entfalten setzt deshalb voraus, Übertragungsgeschehen zu identifizieren und daran zu arbeiten, immer mehr aus den durch die Eltern geprägten Beziehungen zu einem selbstbestimmten Leben zu finden.
Am Rande sei angemerkt, dass für die Heranwachsenden in aller Regel ein rechtzeitiges Verlassen des Elternhauses ein notwendiger Schutz der eigenen Lustfähigkeit darstellt. Schon die Atmosphäre, die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, die in der Primärfamilie Erfahrungen prägen und verfestigen, erschweren die Entwicklung eigener und unabhängiger Positionen. Das trifft auf das erotisch-sexuelle Leben in besonderem Maße zu. Selbst bei sehr offenemund wohlwollendem Umgang mit Sexualität innerhalb der Familie bleibt dieser Bereich durch eine ganz natürliche Intimität geschützt, die sich auch den Eltern und Geschwistern entziehen muss. Eltern sind nicht die Freunde ihrer Kinder, sondern ihre Begleiter, Förderer, Beschützer und «Begrenzer» – sie tragen erzieherische Verantwortung. So bleibt immer ein natürliches Beziehungsgefälle, das in Freundschaften dagegen aufgehoben sein sollte. Und die Sexualität ihrer Kinder geht die Eltern im Grunde nichts an. Sie können gut und gern Aufklärer, Informanten, Berater und Ermutiger sein, nicht aber intime Mitwisser. Zwischen einfühlsamer Beratung und bedrängender Neugier besteht ein erheblicher Unterschied. Lust ist so intim wie subjektiv und braucht Empathie, muss aber vor pädagogischem und bewertendem Einfluss geschützt werden. Allein die erotisch-sexuelle Partnerschaft ist der Ort, an dem höchstmögliche Offenheit wachsen sollte, um Geheimnisse und individuelle Eigenheiten austauschen zu können. Doch selbst hier kann «letzte» Offenheit kein unbedingtes Ziel sein. Immer sind die Grenzen dessen zu berücksichtigen, was der Intimpartner, angesichts seiner Möglichkeiten wie auch seiner Behinderungen, verstehen kann. Fast immer bleiben Wünsche, Phantasien und sexuelle Realitäten, die man besser für sich behält, um eine wertvolle Beziehung nicht übermäßig zu belasten. Die Partnerschaft wächst mit der Offenheit und kann auch daran scheitern. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben.
Die Lust entsteht im Kopf
Die Überschrift dieses Kapitels lässt sich auf die neurophysiologischen Vorgänge im Gehirn beziehen, die hier allerdings nicht erörtert werden sollen. In einer Schule der Lustgeht es vor allem um unsere Phantasien, Wünsche, Vorstellungen und Erfahrungen, um unser Selbstwertgefühl und die innerseelischen Konflikte.
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