Die neue Lustschule
dagegen sind das Grab der Sexualität und häufig auch der Beziehung. Die innerseelischen und beziehungsdynamischen Gründe der Lustbehinderung zu verstehen ist ein Hauptanliegen dieses Buches. In diesem Kapitel geht es mir darum, verständlich zu machen, dass die Lustfähigkeit sowohl körperlich als auch psychisch und beziehungsdynamisch erarbeitet werden muss. Dazu gehören Wissen, die Befreiung von falschen Vorstellungen, Einschüchterungen und Verboten, es sind Übungen und Erfahrungen nötig und darüber hinaus der ehrliche Austausch mit dem Partner über das, wasman möchte, was hilfreich ist und was man gar nicht will, was einen ängstigt, bedroht oder verletzt.
In Bezug auf Sexualmoral und sexuelle Praxis haben wir gesellschaftlich ein hohes Maß an Liberalisierung erreicht. In der öffentlichen Meinung herrscht die Einstellung vor: Es ist alles erlaubt, was gefällt – vorausgesetzt, es besteht partnerschaftliche Zustimmung, ohne Gewalt und Erpressung. Auch die Grenzen des Zulässigen sind allgemein anerkannt: Inzest, Pädophilie und Vergewaltigung sind mit vollem Recht strafbare Handlungen.
Es ist von hohem Wert, dass die sexuelle Praxis in ihrer großen Variabilität weitgehend toleriert wird und die spießigen Vorurteile und Abwertungen nur noch am «Stammtisch» und in der «Gerüchteküche» Bedeutung haben, aber einem nicht mehr wirklich die sexuelle Freiheit nehmen. Wer es mit wem und wie und wie oft treibt, sind zwar immer noch beliebte Themen, die aber oft nur noch als Transportmittel versteckter Wünsche und Phantasien dienen.
Wir haben uns nahezu darauf geeinigt, die erheblichen Unterschiede möglicher sexueller Orientierung für «normal» zu halten, und vermeiden alle Arten diesbezüglicher Diskriminierung. Diese Toleranz ist ein großer gesellschaftlicher Fortschritt. Sie schließt aber nicht aus, dass über entwicklungspsychologische Hintergründe und Motive für sexuelle Orientierung, für Vorlieben, Abneigungen und individuelle Praktiken durchaus reflektiert werden darf. Nachzufragen ist erlaubt, vor allem dann, wenn Leidensdruck bei einem der Sexualpartner entsteht, der die Lust behindert und die Zuneigung zerstört.
An einem eher banalen, aber sehr verbreiteten Konflikt sei dies näher erläutert. Man kann zum Beispiel die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr statistisch erfragen. In aller Regel liegt das Ergebnis bei durchschnittlich zwei- bis dreimal proWoche, aber es ist ebenso völlig normal, wenn jemand jeden Tag Sex hat oder ein anderer nur einmal im Monat oder noch seltener. Der nächste Erkenntnisschritt aber läge im Verstehen, warum das jeweils so ist. «Ich möchte täglich Sex, weil …» «Ich brauche höchstens einmal im Monat Sex, weil …» Mit der Beantwortung solcher Fragen wird die jeweilige konkrete Situation auf mögliche Hintergründe und Zusammenhänge fokussiert, die helfen können, an möglichen Lustbehinderungen zu arbeiten oder auch besser zu verstehen, worin die individuelle Frequenz begründet sein könnte und ob damit irgendwelche Probleme signalisiert werden. Sowohl die Übernahme von Verantwortung für die eigene Lustfähigkeit als auch die Erkenntnis individueller Begrenzungen können hilfreich sein und zur Lösung von Konflikten beitragen. Konkret heißt das zum Beispiel, nicht den Partner zu beschuldigen und von ihm Reaktionen und Veränderungen zu erwarten, im Vertrauen darauf, auf diese Weise die eigenen Probleme lösen zu können. Leider sieht die Realität anders aus: Nur zu oft wird die Erkenntnis der eigenen Schwierigkeiten dadurch abgewehrt, dass man den Partner Vorwürfen aussetzt oder an seine Person allzu große Erwartungen knüpft und auf diese Weise zusätzliche Beziehungsprobleme schafft.
Wie wir noch sehen werden, kann das Leiden an einer Beziehung aber auch den Charakter einer Halt gebenden Notwendigkeit annehmen, wenn ständiger Streit und Ärger dazu dienen, sich gegen die Wahrnehmung einer frühen Bedrohung und Verletzung zu immunisieren. Deshalb kann es keine «Norm» dafür geben, was ein Mensch in seiner Beziehung und seiner Lusterfahrung erreichen sollte, sondern lediglich Hilfestellungen, mit dem Ziel zu verbessern, was verbesserungsfähig ist, unter der Voraussetzung, dass der Wille dazu vorhanden ist. Angesichts der Tatsache, dass dieQualität der frühen Beziehungen über die Entwicklung der Persönlichkeit und infolgedessen über Vertrauen, Selbstwert und Beziehungsfähigkeit für das gesamte weitere Leben bestimmt –
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