Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
weltweit als einer der anregendsten Köpfe der Sozialwissenschaft gilt.[ 7 ] Erkenntnistheoretisch bewegt sich Bourdieu auf der Höhe des gegenwärtigen Reflexionsniveaus, da er frühzeitig von der «Doppelnatur» der sowohl realhistorischen als auch sozial konstruierten Wirklichkeit ausgeht. Methodisch hat er sich nie auf einen ökonomistisch oder kulturalistisch verkürzten Klassenbegriff gestützt. Vielmehr orientierte er sich stets an den «Kristallisationen» der großen Ungleichheit generierenden Potenzen, mithin der Ungleichheit der Macht- und Herrschaftschancen, der Wirtschaftslage, des Prestiges, des Alters, des Geschlechts, der ethnischkulturellen Verbände. Im Zentrum steht bei ihm die Klassenstruktur moderner Gesellschaften – paradigmatisch durch Frankreich vertreten – als eine durch Kontinuität und Konflikt, weit weniger durch Diskontinuität und Konsens bestimmte Macht- und Privilegienhierarchie, an der Bourdieu vor allem die Prägekraft und Phänomenologie der «feinen Unterschiede» interessieren. Sein Ziel ist nicht eine Gesellschaftstheorie, sondern eine theoretisch wie methodisch möglichst zuverlässig abgesicherte empirische Analyse mit überzeugender Erklärungskraft.
Bourdieu ist es gelungen, vier sozialwissenschaftliche Traditionen in seinem Werk zusammenzuführen. Sie werden von Weber, Marx, Durkheim und Lévi-Strauss verkörpert. Von Weber hat Bourdieu übernommen: die Handlungstheorie und den Konstruktivismus der gesellschaftlichen «Doppelnatur»; die Leitperspektive von der sozialen Funktion symbolischer Güter und Praktiken; den Zusammenhang von Lebensführung und sozialer Ehre als einem systematischen Nexus zwischen materiellen Lebensbedingungen und Lebensstil; Legitimation und Charisma als Zusammenhang von symbolischer Macht und ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Die Funktion von Webers «Weltbildern» als «Weichenstellern» für die «Dynamik der materiellen und ideellen Interessen» wird übersetzt in die Ökonomie symbolischer Güter, in die Akkumulation symbolischen Kapitals, in den Kampf um symbolischen Profit. Wenn ein ENA-Absolvent überhaupt auf den Schultern von Riesen stehen darf, steht Bourdieu auf Webers Schultern.
Ganz undogmatisch hat Bourdieu auch Marx rezipiert. Mit Hilfe der Ideen von Weber und Durkheim möchte er Marx’ Systemdenken zu einer umfassenden Theorie der materiellen, kulturellen und symbolischen Dimensionen des Gesellschaftslebens erweitern. Anstatt aber die Kultur von der materiellen Ökonomie zu trennen, insistiert Bourdieu auf der Einheit des materiellen und kulturellen Lebens. Gesellschaft erscheint ihm, analog zu den Weberschen Wertsphären, als die Summe homologer, relativ autonomer Felder, wobei das Feld der symbolischen Reproduktion denselben Analyseregeln unterliegt, wie das der materiellen Ökonomie. Bourdieu verficht, wie er diesen Ansatz selber charakterisiert, einen in Webers Religionssoziologie bereits befolgten «aufgeklärten Materialismus», denn alle Praxis ist interessengeleitet und kann daher als ökonomische Praxis untersucht und gedeutet werden. Jeder Ökonomismus ist Bourdieu verhasst, er beharrt jedoch auf klassenspezifischen Unterschieden der Nutzung und Bedeutung sowohl der materiellen als auch der symbolischen Güter und Praktiken, auf der klassenspezifischen Natur von Interessen, Investitionen und Gewinnsorten, auf der klassenspezifischen Ungleichverteilung von Lebenschancen. Eben darauf beruht die Ungleichheit der materiellen und symbolischen Machtverteilung auf allen gesellschaftlichen Feldern.
Von Durkheim hat Bourdieu die Soziologie der symbolischen Formen als «soziale Tatsachen» übernommen. Insofern geht es ihm stets um die Genese von Denkmustern und Perzeptionsweisen, um die Korrespondenz zwischen sozialen und symbolischen Strukturen. Die kognitiven Strukturen der Akteure werden, kurz gesagt, als verinnerlichte soziale Strukturen begriffen. An kollektiven Repräsentationen interessieren Bourdieu die sozialen und kognitiven Funktionen im Hinblick auf die Machtverteilung, während sie bei Durkheim vom Imperativ der sozialen Integration dominiert werden. Ohne den Glauben an diesen Konsenszwang hat Bourdieu die Wissenssoziologie der Ungleichheit weitergetrieben.
Von Claude Lévi-Strauss, seinem akademischen Lehrer, hat Bourdieu das Erbe eines mächtigen Strukturalismus in der Ethnologie übernommen, der das Denken in den Systemvorstellungen von Marx und Weber noch verstärkt hat. In der Tradition
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