Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
seit den 90er Jahren innerhalb der Klassen und zwischen ihnen einen rapiden Ungleichheitsanstieg ausgelöst habe. Dabei werde das Vermögen noch weitaus ungleicher als das Einkommen verteilt.
3. Der Niedergang gewerkschaftlicher Organisationsmacht, damit das Ausbleiben konkreter Erfolge in den Tarifkonflikten auf dem Arbeitsmarkt schwäche die abhängigen Arbeitskräfte beim Kampf gegen den Ungleichheitsanstieg, während eine steigende Einwanderung von ungelernten Arbeitskräften zusätzlichen Druck auf die Löhne ausübe. Gleichzeitig begünstige die Steuerpolitik die Oberklassen. So sinken etwa in Amerika seit fünf Jahrzehnten die Steuern für die reichste Spitzengruppe[ 9 ]. Auf diese Weise beförderten genuine Marktkräfte im Urteil derjenigen Ökonomen, welche diese Diskussionen dominieren, die Zusammenballung von Vermögen und Einkommen an der Spitze der Sozialhierarchie.
Mit einer spürbaren Verwunderung nehmen zumindest einige von ihnen wahr, dass die Ungleichheit in Europa viel langsamer und viel weniger gravierend als etwa in den USA vordringt. Die Gründe dafür sind eine bessere Versorgung mit sorgfältig geschultem Humankapital, eine effektivere Steuerung des Arbeitsmarktes und eine durchgreifendere Handhabung des sozialstaatlichen Instrumentariums, obwohl es auch in Europa geringere Wachstumsraten als zuvor gibt, eine wachsende Arbeitslosigkeit und gravierende Probleme der öffentlichen Finanzwirtschaft, von den exorbitanten Kosten der deutschen Osterweiterung, die jährlich in der Höhe von mehr als hundert Milliarden Euro anfallen, ganz zu schweigen.
Auffällig ist an der amerikanisch-englischen Diskussion der Wirtschaftswissenschaftler, dass sie so gut wie ausnahmslos die Probleme von Macht und Herrschaft ignorieren. Sie liegen offenbar außerhalb ihres neoklassischen Denkhorizonts. Den Vorständen der 30 deutschen Dax-Gesellschaften gelang es, in den fünf Jahren von 1997 bis 2002 ihr Einkommen ohne die Boni und Aktienoptionen von 1.66 Millionen DM auf 1.7 Millionen Euro zu verdoppeln. Inzwischen verdienen sie aber, nachdem es 1990 noch 570.000 DM waren, mit fünf bis sechs Millionen Euro das mehr als Hundertfache der Durchschnittslöhne ihrer betrieblichen Mitarbeiter. Während VW-Vorstandschef Winterkorn 2011 auf ein Gehalt von 17.456 Millionen Euro kam, wächst im untersten Dezil das Einkommen seit 1985 nicht mehr, und die Löhne aller Arbeitnehmer stagnieren seit acht Jahren. Jeder vierte Arbeitnehmer gehört inzwischen zu den acht Millionen im Niedriglohnsektor. Die Topmanager in Amerika wie in Deutschland schafften es im neuen Jahrhundert, ihr Einkommen im Nu sogar um 400 Prozent zu steigern, so dass sie das 300-fache ihrer Facharbeiter erhalten. Dabei geht es nicht um die Auswirkung genuiner Marktkräfte, die sich plötzlich zu ihren Gunsten ausgewirkt hätten[ 10 ]. Vielmehr geht es um die Durchsetzung von Machtentscheidungen, die sie in ihrer Herrschaftsarena offenbar fällen können. Ihnen liegen normative Vorentscheidungen zugrunde, die (in der Sprache Max Webers) das Schließungspotential nutzen, das ihnen als Machtelite zugewachsen ist. Diese Machtentscheidungen, die in den kleinen Zirkeln der Vorstände und Aufsichtsräte mit der gebotenen Vertraulichkeit gefällt werden, ähneln in der Tat, wie der prominente amerikanische Ungleichheitsforscher David Grusky gespottet hat, der fiktiven Konstellation, dass Studenten erst über das Gehalt des Professors entscheiden, bevor dieser zur Notenverteilung schreitet. Dieser Schließungsfähigkeit der Oberklasse, die ihr Einkommen und Vermögen in einem obszönen Ausmaß zu steigern versteht, entspricht die Exklusion der regulären Arbeitskräfte von solchen atemberaubenden Beförderungsprozessen. Die Verteilungsgerechtigkeit ist völlig verloren gegangen, wie das auch Bundestagspräsident Lammert nüchtern festgestellt hat. In der neueren Geschichte findet sich keine Berufsklasse, die mit derart ungebremster Habgier ihrem Drang nach Einkommens- und Vermögenssteigerung nachgegeben hat.
Wenn daher im Folgenden von Sozialer Ungleichheit die Rede ist, geht es nicht nur um privilegiertes Humankapital mit hohem Einkommen oder um ungelernte Arbeiter mit stagnierenden Löhnen, sondern vor allem um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen und Vermögen verschaffen, die sie von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit
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