Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Vorbereitung seiner empirischen Analyse nutzt Bourdieu Webers Vorstellung, dass die gesellschaftliche Prestigehierarchie häufig nicht auf ökonomischem Vorrang beruht, sich vielmehr aus der Fusion von Erwerbsklassenlage und ständischer Lage ergibt. Moderne «Distinktionsklassen», so werden in Bourdieus vereinheitlichender Klassenterminologie die älteren Statusgruppen definiert, legitimieren ihre Privilegien durch die Kultivierung ihrer Sonderstellung und sozialen Ehre. Eben diese Anstrengung lenkt Bourdieu auf die sorgfältige Unterscheidung der «feinen Unterschiede» zwischen den «Distinktionsklassen» und anderen Sozialformationen hin, die sich durch ihr kulturelles Kapital und ihre sublimierte symbolische Macht behaupten und rechtfertigen. Während für Weber der Nachweis im Vordergrund steht, dass Macht und eventuell ständische Lage die modernen Klassen und das Ausmaß ihrer Lebenschancen konstituieren, fragt Bourdieu intensiv danach, wie Macht und Herrschaft überhaupt erzeugt (oder verweigert) und wie sie dann durch soziale Praktiken, die sowohl auf den materiellen wie den ideellen Existenzbedingungen als auch auf den im Habitus gebündelten Dispositionen beruhen, erhalten werden.
Dank seiner Fusion von Klassikertradition und Ethnologie, von empirischer Sozialforschung und Hermeneutik kann daher Bourdieus Stratifikationsanalyse auf vier unterscheidbaren analytischen Ebenen operieren:
1. Klassenspezifische Differenzen des Konsums und Freizeitverhaltens werden als Unterschiede des Lebensstils und des Modus der Lebensführung untersucht.
2. Die sozialpsychische Kohärenz der Klassen wird durch die Eigenarten und Funktionsmechanismen des Klassenhabitus erklärt.
3. Die Unterschiede der materiellen Lebensbedingungen bemessen sich je nach der Distanz zum «Reich der ökonomischen Bedürfnisse».
4. Soziale Distanz ergibt sich aus der Verfügung über die vier Kapitalsorten – oder aus dem Ausschluss der Verfügungsmacht über sie.
Aus dieser eigentümlichen Kombination von klassischer Sozialtheorie und Ethnologie, von Hermeneutik und empirischer Soziologie ergibt sich, wie bereits gesagt, in Bourdieus Werk eine realitätsnahe Erfassung von «sozialer Wirklichkeit», insbesondere der gesellschaftlichen Hierarchie, ohne dass er der Versuchung einer Totalitätstheorie oder dem Sog einer allumfassenden Gesellschaftstheorie erlegen wäre.
Nach dem allgemeinen Überblick über die wichtigsten Stratifikationstheorien geht es um weitere generelle Überlegungen, um den weberianischen Interpretationsrahmen zu erläutern.
Dabei trifft man auf ein schwieriges konzeptuelles Problem: Wie kann dieses System der Sozialen Ungleichheit angemessen erfasst werden? Seine komplexe Struktur lässt es geraten erscheinen, in heuristischer Absicht, ohne die üblichen kühnen Globalhypothesen, im Anschluss an den vorn präsentierten historischen Rückblick auf Stratifikationstheorien einige analytische Vorüberlegungen über die Natur der Sozialen Ungleichheit und die Begriffe, die für eine historische und systematische Untersuchung gleichermaßen nützlich sind, anzustellen. Soziale Ungleichheit ist der allgemeine Ausdruck für das Fundamentalfaktum, dass die sozialen Positionen von Individuen und Verbänden stets hierarchisch gestaffelt sind. In diesem Sinne charakterisiert irgendeine Form von Sozialer Ungleichheit die Sozialstruktur aller Gesellschaften. Jede Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, die ihren Anspruch ernst nimmt, wird dieser Achse der Sozialstruktur ihre Aufmerksamkeit intensiv zuwenden.
«In der Theorie», hat Max Weber einmal erklärt, «operiert man zweckmäßig mit extremen Beispielen.» Wenn daher im Folgenden von den anthropologischen Universalien der gesellschaftlichen Hierarchisierung, mithin von Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Sozialer Ungleichheit, vor allem die letzte Konstante diskutiert wird, legt es ein solcher Ratschlag nahe, diese Erwägungen zugespitzt zu formulieren. Abstrakt betrachtet kann Soziale Ungleichheit zunächst einmal als ein Verteilungssystem begriffen werden, das die Distribution knapper, begehrter Güter in historisch außerordentlich variabler Form auf Dauer regelt – ob es sich um Privilegien wie Macht, Reichtum, Ansehen oder um die Zuweisung anderer Gratifikationen handelt. Soziale Ungleichheit in diesem Sinne meint, auf eine Formel gebracht, die verschiedenartige Verteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken, damit eine der Grunderfahrungen
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