Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
imaginiert? Mustafa wird zum Kriegsdienst eingezogen und kämpft in einem bosnischen Sonderkommando. Er drängt sich immer heftiger in Ismets Gedanken. «Mustafa geht mir nicht aus dem Kopf. Stundenlang träume ich im Wachzustand sein Leben, während ich darauf warte, dass meines einen Sinn ergibt», notiertIsmet in seinem Tagebuch. Mustafa ist nicht nur der personifizierte Ich-Zerfall, er ist auch die fiktive Doppelgängerfigur, die dem Autor einen zweiten Blickwinkel auf den Krieg ermöglicht. Er habe diese Figur Mustafa erfunden, sagte Ismet PrciÄ in einem Interview, weil er dem Roman eine doppelte Perspektive geben wollte: «Ich wollte eine Figur, die weggeht und den Krieg von auÃen sieht; und eine andere Figur, die kämpft und den Krieg am eigenen Leib erfährt. Irgendwann kollabieren die beiden Figuren ineinander, ohne dass man wissen kann, welche wirklich ist.»
Aleksandar Hemon ist dreizehn Jahre älter als Ismet PrciÄ, auch er ein gebürtiger Bosnier, der wie PrciÄ sein Land verlassen, den Kontinent und die Sprache gewechselt hat, in den USA lebt und seine Bücher auf Amerikanisch schreibt. So, wie sich PrciÄ im Spätsommer 1995 in Schottland mit der Entscheidung quälte, ob er in das belagerte Tuzla zurückkehren oder emigrieren sollte, so quälte sich Hemon im Frühjahr 1992 in den USA mit der Frage, ob er nach Sarajevo heimkehren oder in Amerika um politisches Asyl ersuchen sollte.
Hemon war achtundzwanzig und absolvierte gerade als Stipendiat im Rahmen eines Kulturaustausches ein Besuchsprogramm in den Vereinigten Staaten, als die Belagerung von Sarajevo begann. Sein Rückflug von Chicago war für den 1. Mai 1992 geplant. Just an diesem Tag verhängten die serbischen Belagerer eine Blockade über die Stadt und schnitten sie von Wasser, Elektrizität und allen Zufahrtswegen ab. Statt des Rückflugs gab es hektische transatlantische Telefonate mit der Familie daheim. Den ganzen Sommer über schwankte Hemon und war unschlüssig: War der Krieg in Bosnien die Sache einiger weniger Wochen, wie viele meinten, und bald ausgestanden? Oder hatte sein Vater recht, der ihm riet, in Amerika zu bleiben? Letztlich waren es die Nachrichten über die Not der Eingeschlossenen in Sarajevo und über serbische Gräueltaten im Folterlager von Omarska, die Hemon bewogen, sich für das Exil zu entscheiden und in den USA um politisches Asyl zu ersuchen.
Daheim hatte er Anglistik studiert und einen nunmehr «wertlosen Abschluss in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität von Sarajevo» erworben. In den goldenen Jahren unmittelbar nachTitos Tod, als Sarajevo seinen ganzen Magnetismus als multiethnischer Kulturraum entfalten konnte, galt Hemon als hoffnungsvoller bosnischer Nachwuchsautor und begann, sich als Journalist einen Namen zu machen. Er war «besoffen von [s]einer jugendlichen Radikalität und Unbekümmertheit», wie er in seinem autobiographischen Erzählungsband «Das Buch meiner Leben» feststellt. Und er schrieb «militant urbane» Kolumnen über das kosmopolitische Leben in Sarajevo, der «Welthauptstadt des Klatsches», die er liebte, denn sie war «schön und unsterblich, eine unzerstörbare Republik von urbanem Geist».
All das war nun mit einem Schlag vorbei. Hemon musste sich eingestehen, dass seine Generation aufstrebender junger Dichter, Filmemacher und Künstler die längste Zeit das Unheil, das sich über Bosnien zusammenbraute, nicht hatte wahrhaben wollen. Vor ihren Augen wurde zum Krieg gegen sie gerüstet, doch sie waren blind. In ihren Ohren gellte die groÃserbische Kriegshetze, doch sie waren taub. Die Stimmung in der Stadt war «ein Dauer-Festival der Katastrophen-Euphorie», wie Hemon es im Rückblick nennen sollte: «Wir wussten â aber wir wollten nicht wissen â, was passieren würde: Der Himmel würde auf uns herabstürzen wie der Schatten eines herabfallenden Konzertflügels in einem Cartoon», schreibt er in «Liebe und Hindernisse», seiner Sammlung von Erzählungen über Kindheitserinnerungen, über die lebenspralle Vorkriegszeit in Sarajevo und die hoffnungslos komischen Mühen des Migrantenlebens.
In gewisser Weise hatte Hemon es schwerer als Téa Obreht, SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ oder Ismet PrciÄ, die als Kinder oder Halbwüchsige emigriert waren. Auf sie warteten in ihren Zufluchtsländern feste
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