Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Strukturen â die Schule, das College â, um sie aufzunehmen und einzugewöhnen und ihren Sprachwechsel zu organisieren. Aleksandar Hemon dagegen war in der Fremde völlig auf sich allein gestellt, und er hatte mehr verloren als eine glückliche Kindheit: Ihm waren die vielversprechenden Anfänge einer Karriere als Autor und Journalist zerschlagen worden. «Ich war damals verzweifelt, angesichts von Krieg und Entwurzelung», schrieb er später. Und auÃerdem fehlte ihm eine entscheidende Erfahrung: «Meine Geschichte ist langweilig: Ich war nicht in Sarajevo, als der Krieg begann. Ich fühlte mich hilflos und schuldig, wennich im Fernsehen sah, wie meine Heimatstadt zerstört wurde. Ich erwog in der Anfangsphase des Kriegs, nach Sarajevo zurückzugehen, aber mir wurde klar, dass man mich dort nicht brauchte und nie brauchen würde.»
Hemon entschied sich für einen harten Schnitt und einen radikalen Neuanfang. Er blieb in Chicago, wo er gestrandet war, und wurde zunächst ein «Nowhere Man», der im Transit festhängt und nicht weiÃ, wo er hingehört. «Nowhere Man» wird Hemon zehn Jahre später seinen ersten auf Amerikanisch geschriebenen Roman nennen, eine semi-autobiographische Reminiszenz, verfremdet durch ein fiktives Alter Ego namens Jozef Pronek, den er auf seinen, Hemons, eigenen Hindernisparcours zwischen Herkunftsland und Zufluchtsland schickt. Das Buch ist ein Sammelsurium von verzweifelt lustigen, satirischen, manchmal auch surrealen Erinnerungssplittern und ein Zeichen dafür, dass Hemon es inzwischen geschafft hat und in Amerika angekommen ist. Jetzt kann er sich bereits mokieren über die Anfänger-Tollpatschigkeit seiner Spiegelfigur Pronek: wie er sich illegal über die Runden bringt und wie er sich tölpelhaft radebrechend durchwurstelt, immer mit dem Ziel, ein amerikanischer Schriftsteller zu werden.
Wie sein Doppelgänger Pronek, so frettete sich auch Hemon in Chicago anfangs mit miesen und mitunter bizarren Aushilfs- und Hausiererjobs durch, indem er etwa für
Greenpeace
Klinken putzte und an der Haustür Zeitschriften-Abos verkaufte und Mitglieder warb â späterhin Erzählstoff für einige komische Stories. Seine winzige Einzimmerwohnung war eine Bruchbude, «ein Mahnmal für die Mühsal des Immigrantenlebens, mit der durchgelegenen Matratze, dem stockfleckigen Duschvorhang und dem schlaflosen Schlagzeuger nebenan».
Was ihn indes vor allem quälte, war sein Verstummen im sprachlosen Niemandsland zwischen Nicht-mehr-Bosnisch und Noch-nicht-Amerikanisch. «Drei Jahre lang hing ich zwischen den Sprachen fest», erzählte er später einem Interviewer. «Ich konnte weder auf Bosnisch noch auf Englisch schreiben.» Seinem alten Freund, dem Journalisten Senad Pecanin, der drüben im belagerten Sarajevo ein beherztes politisches Wochenmagazin namens «Dani» (Tage) herausgab, das ob seines kritischen Mutes bald Kultstatus genoss, sagte er die versprocheneregelmäÃige Amerika-Kolumne wieder ab: «Ich konnte nicht mehr schreiben. Mein Bosnisch war ein Vorkriegs-Bosnisch.»
In seinem ersten Erzählungsband «Die Sache mit Bruno» beschlieÃt Hemon eine Story mit den lapidaren Sätzen: «Der gröÃte Teil meiner Familie ist über Kanada verstreut. Diese Geschichte wurde AD 1996 in Chicago (wo ich lebe) in der U-Bahn geschrieben, nach einem langen anstrengenden Tag als Hilfskraft auf einem Parkplatz.» Denn dies ist eines der ironischen Erzählziele dieser Geschichtensammlung, die Hemons Ruhm begründete: die Mythisierung der migrantischen Existenz. In der Erzählung «Austausch freundlicher Worte» mythisiert er die bosnische Diaspora am Beispiel der in alle Himmelsrichtungen verstreuten «Nomadensippe der Hemons», der er in einer «Hemoniade» spöttisch huldigt, einer übermütigen Stammessage, wie sie frecher nicht ausgedacht sein könnte. In dieser Herkunftslegende leitet er die Hemon-Dynastie von einem sagenhaften Stammvater aus der Bretagne her, der einst mit Napoleons Armee in den Osten gezogen sei und in der Ukraine sein Glück gefunden habe, wonach Hemons UrgroÃvater aus der Ukraine nach Bosnien eingewandert sei â just an einem welthistorischen Tag. An seinem Ankunftstag stand er, beteuert Hemon allen Ernstes, mit seinem Akkordeon am StraÃenrand neben dem Attentäter Gavrilo Princip, als dieser 1914 in Sarajevo
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