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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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und sich wegbeamtin eine normale, aufregende Adoleszenz. «Ich blendete einiges aus, wenn ich mit meinen Freunden zusammen war. Wir vermieden es, über Politik und Religion zu sprechen. Stattdessen zogen wir, allesamt geil und verliebt, durch die Straßen. Wir schrammelten auf verstimmten Gitarren, erzählten einander Lügengeschichten über sexuelle Erfahrungen, tauschten italienische Comics und deutsche Pornos, rissen eklige Witze und schimpften über die Schule.»
    Gegen das Gefühl, in der Stadt gefangen zu sein, hilft manchmal ein Tagtraum, eine Befreiungsphantasie. Von der Brücke über den Fluss Yala aus schaut Ismet einem Stuhlbein nach, das im Wasser vorbeischwimmt: «Ich stellte mir vor, dass es von hier entkam, aus der belagerten Stadt, dass es bis runter zur Spreca gespült wurde, die es durch die feindlich besetzten Gebiete im Osten zur Drina trug. Die Drina würde es nach Norden mitnehmen, zwischen Bosnien und Serbien hindurch, und an die Sava übergeben, verborgen im Blut der Menschen beiderseits der zerklüfteten Grenzen. Die Sava hätte kein Problem damit, es in die Donau zu treiben, und die Donau würde für eine sichere Passage mitten durch Belgrad sorgen und es schließlich ins Schwarze Meer befördern.»
    Wenn real kein Entkommen möglich und die Außenwelt nicht erreichbar ist, dann muss eben die Welt in die Stadt hereingeholt werden: Ismet schließt sich einer experimentellen Laienspielgruppe an und erobert sich den Kosmos des Theaters. Die Kunst ist nicht bloß ersehnte Ablenkung für die «dünnen, erschöpften, vergnügungssüchtigen Menschen»; Theaterspielen heißt Rollenspielen, heißt: dem Gefühl des Zerfallens eine Form und einen Halt geben. Rollenspielen ist für Ismet ein befreiendes Glück, ein kontrollierter Zerfall, und damit auch eine Form des Widerstands gegen das Chaos, eine Form der Todesverachtung und der Selbstintensivierung: «Das Theater war Labor, Religion, Geheimkult. Es war alles.» Es geht darum, «der Welt zu zeigen, dass es in Bosnien Schönheit gab, und wir nicht nur die Opfer von Geisteskranken waren, Experten im Leiden, verzweifelt um Hilfe Bettelnde, die in ihren Städten vor sich hin vegetierten und darauf warteten, gerettet zu werden, während die Welt auf CNN zusah».
    Kurioserweise geht es Ismet selbst nicht anders als der Welt. Er erlebtden Krieg zwar am eigenen Leib, aber simultan schaut er ihm auch im Fernsehen zu. Die Belagerung und Zerstörung der kroatischen Stadt Vukovar durch serbische Truppen sieht er auf dem Bildschirm und ahnt, was auch auf Tuzla zukommen wird. Er weiß: «Filme werden ihm nicht gerecht – mehr sage ich nicht über das gedankentötende, atemabschneidende Geräusch einer herannahenden Granate, die auf ihrem Weg ins Zentrum deiner Stadt die Luft durchschneidet.» Er hört zu Hause den Einschlag einer Artilleriegranate in der Altstadt und denkt sich nichts dabei. Es ist der 25. Mai 1995, gefeiert wird der «Tag der Jugend», Tausende junge Leute sind an diesem warmen Abend draußen unterwegs. Doch erst als Ismet das Massaker im Fernsehen sieht, weiß er, was er soeben erlebt hat – den letzten und zugleich schlimmsten Granatenangriff der Serben auf Tuzla, der 71 Jugendliche das Leben kostete und fast zweihundert weitere verletzte.
    Und dann eröffnet sich für Ismet ganz unvermutet die Chance, aus Bosnien zu entkommen. Seine Theatertruppe wird zum
Fringe Festival
nach Edinburgh eingeladen und bekommt tatsächlich eine Reiseerlaubnis. Soll er in Schottland abspringen oder mit der Truppe heimkehren? Der entscheidende Moment, als er seinen Pass der Reiseleiterin übergeben soll, stürzt ihn in tiefe Verwirrung, die er als Ich-Zerfall, als eine Spaltung in Ich und Er erlebt: «Mein Name war Ismet. Er griff in die Tasche. Zog das Geld raus. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Er kramte tiefer. Suchte den Pass. An der falschen Stelle. Er stand in Panik auf. Er sah sich um.
Wo ist dein Reisepass? Ich hab ihn im Zimmer vergessen. Wir gehen ihn holen.
Mein Name war Ismet. Mein Reisepass steckte vorne in der linken Tasche seiner Jeansjacke, und er gab ihn nicht her.»
    Torpediert wird Ismets zersplitterter Lebensbericht zusätzlich durch das Auftauchen eines zweiten jungen Mannes namens Mustafa, der sich in den Roman einschleicht und dessen ontologischer Status unklar bleibt: Ist er real? Ist er

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