Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
liest das zufällig aufgefundene Manuskript «An IndianAdolescence», die dünn verkleidete autobiographische Jugendgeschichte seines Vaters, mit dem kritischen Blick eines professionellen Autors, aber auch mit dem Blick des betroffenen Sohnes, der das literarische Vermächtnis seines Vaters vor Augen hat. Die Kommentare des Sohnes sind Diagnose, Literaturkritik, Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte, Erinnerungs- und Trauerarbeit zugleich. Seine Gefühle beim Lesen der väterlichen Hinterlassenschaft schwanken zwischen Stolz, Zärtlichkeit, Zorn, Rivalität, Liebe, Dankbarkeit, Kummer und Trauer.
Hanif Kureishi versucht, das Grundgefühl des Versagens und Scheiterns, das seinen Vater und dessen Brüder beim sozialen Abstieg der Familie peinigte, auf den Begriff zu bringen: «Sie wussten nie so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten, diese übermäÃig gebildeten und in ihrer Ziellosigkeit und ihrem Sinnlosigkeitsgefühl an Figuren von Tschechow erinnernden Kureishi-Söhne â sie erweckten immer den Eindruck, zu intelligent und bedeutsam für die Situationen zu sein, in denen sie sich wiederfanden, als wäre die Welt unbedingt darauf aus, sie hinabzuziehen, anstatt sie zu erheben. Sie hatten ein Gefühl der Vergeudung, das sie nie ganz verlieÃ.»
Indem Hanif Kureishi die hinterlassene Jugendgeschichte seines Vaters liest und bewertet, sie mit seinen eigenen Erinnerungen und den Memoiren der Geschwister seines Vaters vergleicht, lässt er seinem Vater posthum jene Anerkennung zukommen, die ihm zu Lebzeiten immer vorenthalten wurde. Er schreibt: «Ich bin froh, dass ich die Bücher meines Vaters entdeckt habe; froh, dass ich sie gelesen habe. Mein Vater hat endlich bekommen, was er sich wünschte, wenn er sich morgens an den Schreibtisch setzte: Jemand hat seine Geschichten gelesen, darüber nachgedacht, mit ihnen gelebt, sie zum Gesprächsthema gemacht. Und wie meine Nacherzählung zeigt, sind sie bedeutsamer, als er glaubte.»
Hanif Kureishi pflegt den komparatistischen Blick, indem er vergleichende Herkunftsgeschichte betreibt. Während er die Spuren seiner verstreuten Familie zusammensucht und familiäre Gedächtnissplitter zusammenfügt, vergleicht er ständig die Situation seiner Vorgänger-Generationen mit seiner eigenen. Immer wieder kommt HanifKureishi auf die unterschiedlichen Startbedingungen zu sprechen, die die erste und die zweite Generation pakistanischer Migranten in GroÃbritannien vorfanden. Hanif, der zur zweiten Generation gehört und 1954 bereits in England geboren wurde, hatte es deutlich leichter im Leben als sein Vater. Andererseits hatte sein Vater es leichter als die nach ihm eintreffenden Zuwandererströme vom Subkontinent. Entscheidend scheint der Zeitpunkt der Ankunft in England.
Shani Kureishi gehörte zu Anfang der 1950er Jahre zur Vorhut der Zuwanderer vom Subkontinent. Er war getrieben vom Wunsch nach Integration und Ansehen, und er war weder ein Armuts- noch ein Arbeitsmigrant, er suchte auch kein Asyl als politischer Flüchtling. Als Nachkomme der kolonialen Elite durfte er sich in London noch relativ wohlgelitten fühlen, verglichen mit den zahllosen Armutsmigranten vom Subkontinent, die nach ihm kamen. GroÃbritannien bediente sich immer noch gerne der Ressourcen und der billigen Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien; doch zugleich wurden die Zuzügler in Ghettos abgedrängt, um sie unsichtbar zu machen. Von der vehementen Ausländerfeindlichkeit, die diesen Immigranten in England später entgegenschlug, war zur Zeit der Ankunft von Kureishi senior noch nichts zu spüren.
Die rassistischen Gewaltausbrüche gegen pakistanische und indische Einwanderer begannen erst Jahre später; erst 1968 hielt der Tory-Politiker Enoch Powell seine notorische «Ströme-von-Blut»-Rede, in der er gegen asiatische Immigranten agitierte und drastisch vor den Folgen ungebremster Zuwanderung aus dem Commonwealth warnte; der Aufstieg der rechtsextremen, rassistischen und vehement ausländerfeindlichen «British National Front» begann in den späten 1960er Jahren; und die Rassenunruhen, die sich in London nach der Abspaltung Bangladeschs von Pakistan an der Massenzuwanderung armer Bengalis entzündeten, fielen erst in die 1970er Jahre.
Diese Unruhen wurden später auch Thema der Literatur. Sie spiegeln sich etwa in den Romanen mehrerer Einwandererkinder
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