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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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englischen Internat Anfang der sechziger Jahre drei Fehler machen konnte. Man durfte kein Ausländer, nicht klug und nicht schlecht in Sport sein. Wer in Sport nicht gut war, musste darauf achten, nicht allzu klug zu sein, und wenn möglich, nicht allzu ausländisch, was der schlimmste aller Fehler war». Der junge Rushdie machte sich aller drei Fehler schuldig. Er war Ausländer, klug und unsportlich, weshalb er in England eine überwiegend unglückliche Internatszeit verbrachte.
    Doch erst nach seinen Universitätsjahren, in seinem ersten Beruf als Werbetexter in London, begann Salman Rushdie über seine prekäre Existenz im postkolonialen England nachzudenken. Seine Selbstverortung als noch namenloser Zuwanderer fällt deutlich weniger selbstgewissaus als die des erfolgreichen jungen Draufgängers Kureishi. «Er war ein Migrant. Er gehörte zu denen, die an einem Ort gestrandet waren, der nicht der Ort war, an dem es für sie begonnen hatte», schreibt Rushdie über sich in seiner Autobiographie «Joseph Anton».
    Und er fährt fort: «Jede Migration kappt die herkömmlichen Wurzeln der eigenen Person. Der verwurzelte Mensch gedeiht an einem Ort, den er gut kennt, unter seinesgleichen, die er gleichfalls gut kennt, folgt Bräuchen und Traditionen, mit denen er und seine Gemeinschaft vertraut sind, und er unterhält sich mit den anderen in einer ihnen gemeinsamen Sprache. Von diesen vier Wurzeln – Ort, Gemeinschaft, Kultur und Sprache – hatte er drei verloren. Er war ein Junge aus Bombay, der seinen Lebensweg unter Engländern in London machte, sich aber durch ein doppeltes Gefühl der Unzugehörigkeit verflucht fand. Wenigstens die Sprachwurzel war ihm geblieben, doch begann er allmählich zu verstehen, wie schmerzlich er unter dem Verlust der übrigen Wurzeln litt. Die Millionen Migranten dieser Welt sahen sich im Zeitalter der Migration mit enormen Problemen konfrontiert, mit Heimatlosigkeit, Hunger, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Verfolgung, Entfremdung und Angst. Er zählte zu den Glücklicheren, doch blieb ein großes Problem: das der Authentizität. Das Migranten-Ich wurde unweigerlich heterogen statt homogen. War es möglich, nicht etwa wurzellos zu sein, sondern im vielfach Verwurzelten aufzugehen? Nicht darunter zu leiden, dass einem die Wurzeln fehlten, sondern von einem Übermaß an Wurzeln zu profitieren?»
    Diese Frage berührt die Grundproblematik von Salman Rushdies Existenz. Sollte er sich als entwurzelt empfinden? Oder ließe sich seine Wurzellosigkeit ins Positive kehren und als existenzieller Reichtum begreifen, als Chance einer mehrfachen Verwurzelung – aber eben als Luftwurzler? Aus dieser Frage – und deren unterschiedlicher Beantwortung zu unterschiedlichen Zeiten – sollte sich Rushdies gesamtes literarisches Werk speisen. Seine Romane und Erzählungen dokumentieren den allmählichen Wandel in Rushdies Selbstverständnis: vom zugewanderten, sich unzugehörig fühlenden, unter Verlustängsten und Identitätsdefiziten leidenden Fremdling, dem sein Außenseitertum zu schaffen macht, zum stolzen Weltbürger und Schrittmacher des Melange-Konzeptsmit einer neuen, andersartigen Gewissheit der eigenen Authentizität, der seinen sicheren Ort gefunden hat – in der Kunst, in den «Heimatländern der Phantasie», wie Rushdie seinen großen Essayband über die 1980er Jahre nannte.
    Dieses Vertrauen Rushdies in die produktive Kraft, die aus dem Fehlen einer klaren geokulturellen Zugehörigkeit gezogen werden kann, hat auch Homi K. Bhabha, den einflussreichen indischen Theoretiker des Postkolonialismus, inspiriert. Der von Bhabha eingeführte Diskurs der geokulturellen Entortung bezieht sich ausdrücklich auf die von Rushdie gefeierte Hybridität als privilegiertes ästhetisches Verfahren. Keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, animiert Rushdie in seinem literarischen Œuvre dazu, «mit Ambivalenzen, Kontingenzen und unlösbaren Widersprüchen spielerisch umzugehen», wie man in Homi K. Bhabhas Studie «Die Verortung der Kultur» liest. Rushdie stelle «festgeschriebene, tradierte Identitätsbegriffe infrage und untersucht die ihnen zugrunde liegenden Antagonismen, um sie neu auszuhandeln».
    Doch war es ein mühsamer Weg, ehe Rushdie zu dieser überlegenen kosmopolitischen Gelassenheit fand. Die 1980er Jahre waren das

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