Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
«Joseph Anton» bekennt: «Die Migration stellt für den Aus- und Einwanderer alles infrage, die Identität ebenso wie die Persönlichkeit, die Kultur und den Glauben.»
So gesehen, bilden «Mitternachtskinder», «Scham und Schande» und «Die Satanischen Verse» Rushdies groÃe Ost-West-Trilogie, in der er sich am Verhältnis der Ex-Kolonie Indien zum Kolonialherrn GroÃbritannien nach dem Ende des Empire abarbeitet. Er hat darin nicht nur sein Thema, sondern auch seinen Stil gefunden. Als gebildetem, anglo-indischem Intellektuellem stehen Rushdie die Geschichtsspeicher und kulturellen Reservoirs des Morgen- wie des Abendlandes zur Verfügung. Er verbindet die exotische Märchenfreude und phantastische Fabulierlust eines Tausendundeine-Nacht-Erzähltemperaments mit dem skeptischen Witz und Sarkasmus eines an Jonathan Swift und James Joyce geschulten Stilgestus; zugleich orientiert sich Rushdie an den Welt-Erfindungen eines Gabriel GarcÃa Márquez und an einem sprachverliebten Humoristen wie Günter Grass. Rushdie schreibt pralle Schöpfungsgeschichten in einem multikulturellen, postmodernen Esperanto. Seine Romane sind Epochenpanorama und politische Satire, historisches Spektakel, Phantasterei, Schelmenroman und barocke Sprachveranstaltung in einem. Naturgemäà sind sie respektlos. Blasphemisch sind sie nicht. Zum Blasphemiker fehlt dem aufgeklärtlässigen Skeptiker Rushdie ganz einfach der religiöse Fanatismus, die Besessenheit mit dem Thema Religion.
Die Tatsache, dass «Die Satanischen Verse» weltweit Anstoà erregten â wie politisch gesteuert diese Empörung mit ihren Hysterisierungsexzessen auch immer gewesen sein mag â, hat Salman Rushdie genötigt, seine eigene Haltung in diesem Konflikt gründlich zu reflektieren und seine gemischten Gefühle als Wanderer zwischen den Welten auf einen Begriff zu bringen. Zur Verteidigung seines Romans entwickelte der Autor erstmals sein Konzept der glücklichen Kontamination, indem er die Entwurzelung des Migranten ins Positive umdeutete und sie als Chance zur mehrfachen Verwurzelung in gemischten Kulturen begriff. So gewann er aus dem Gefühl des Identitätsverlusts die VerheiÃung pluraler Identitäten. Romane seien dazu da, Sprache, Form und Ideen radikal umzuformulieren, liest man in seinem Selbstverteidigungsessay «In gutem Glauben»; darauf weise schon das englische Wort «novel» hin: Es gehe darum, «die Welt neu zu sehen». «Die Satanischen Verse» seien «ein Buch über radikales Andersdenken, über In-Frage-Stellen und Umdenken».
Und Rushdie fährt fort: «Jene, die den Roman heute am heftigsten bekämpfen, sind der Meinung, dass ein Vermengen mit anderen Kulturen unweigerlich die eigene Kultur schwächen und ruinieren muss. Ich bin genau der entgegengesetzten Meinung. â¹Die Satanischen Verse⺠feiern die Bastardisierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung, die durch neue, unerwartete Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Richtungen, Filmen oder Liedern entstehen. Das Buch erfreut sich am Mischen der Rassen und fürchtet den Absolutismus des Reinen. Melange, Mischmasch, ein bisschen von diesem und ein bisschen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. Hierin liegt die groÃe Chance, die sich durch die Massenmigration der Welt bietet, und ich habe versucht, diese Idee in meinem Buch umzusetzen. â¹Die Satanischen Verse⺠plädieren für Veränderung durch Fusion, Veränderung durch Vereinigung. Sie sind ein Liebeslied auf unser Bastard-Ich.»
So definiert und behauptet Salman Rushdie hier erstmals die zentrale Idee seines Lebens und Schreibens, die er in seinen späteren Werken noch vielfach variieren und transformieren sollte. Er schreibt über den Westen im Osten und über den Osten im Westen und über dasGlück der Vermischungen. Er feiert das Ineinander der Kulturen und das Ideal einer neuen, vielfarbigen, multikulturellen und postethnischen Welt, jenseits aller Dogmatismen. Die Frage, ob Migration zu Selbstverlust oder Selbstintensivierung führt, hat er nach Jahren der Identitätszweifel letztlich für sich eindeutig und positiv beantwortet, als selbstbewusster Weltbürger mit Dauerwohnrecht in den Heimatländern der Phantasie. In seinen Werken thematisiert er die Ungeborgenheit einer stetig wachsenden Zahl von Migranten in der
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