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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Welt, deutet sie zugleich optimistisch um zum potenziellen neuen Reichtum an Ich-Erfahrung und erklärt diese Hybridisierung zur Allegorie der Moderne schlechthin.
    Nicht jeder Migrant wird ihm darin folgen wollen oder können. Auch die meisten von Rushdies indo-pakistanischen Autorenkollegen würden wohl in dieses Hohelied auf das Glück des postethnischen Synkretismus nicht miteinstimmen mögen. Dem anglo-pakistanischen Erzähler Nadeem Aslam oder der aus Bangladesch gebürtigen Autorin Monica Ali beispielsweise boten ihre jeweiligen migrantischen Lebenserfahrungen wenig Anlass, die gelungenen kulturellen Amalgamierungen von ansässigen Briten und Zuwanderern vom Subkontinent sonderlich zu feiern. Schließlich hatten beide ihr britisches Leben nicht im Nobel-Internat von Rugby, sondern in den harten nordenglischen Zuwandererenklaven begonnen, in Huddersfield bzw. in Bolton, in Städten mit großen Ghettos von Armutsmigranten also, in die Salman Rushdie schwerlich je einen Fuß gesetzt haben dürfte.
    Nadeem Aslam, der aus Gujranwala, Pakistan, stammt und als Vierzehnjähriger mit seiner Familie politisches Asyl in England erhielt, nennt das pakistanische Ghetto von Huddersfield, in dem er aufwuchs und in dem auch sein Roman «Atlas für verschollene Liebende» spielt, wie erwähnt, nur «Dasht-e-Tanhaii», Wildnis der Verlassenheit, Wüste der Einsamkeit. Und Monica Ali, die als Dreijährige aus dem bengalischen Dhaka nach England kam, siedelt ihren Debütroman «Brick Lane» in der gleichnamigen Straße im Ost-Londoner Stadtbezirk Tower Hamlets an, der als Ghetto bengalischer Immigranten auch unter dem Beinamen «Banglatown» bekannt ist, was lange Zeit als Synonym für Armut und Gewalttätigkeit galt. Auch Salman Rushdiehatte dieses Viertel bereits als Schauplatz für Teile seiner «Satanischen Verse» gewählt: Bei ihm heißt die Gegend «Brickhall».
    Das Bild, das Nadeem Aslam in «Atlas für verschollene Liebende» vom Migrantenleben in England zeichnet, ist düster. Schauplatz seines Romans ist das pakistanische Migrantenviertel einer namenlosen nordenglischen Stadt, dessen soziale Kälte gleich eingangs in einer gängigen Wetter-Metapher beschworen wird. Es ist der erste Schneefall dieses Winters. Wie ein Magnet zieht die Erde «die Schneeflocken aus dem Himmel herunter». Ein Eiszapfen bricht ab und fällt «wie ein glitzernder Dolch» Shamas zu Füßen, der Hauptfigur des Romans. Shamas ist ein pakistanischer Gastarbeiter Mitte sechzig, der vor vierzig Jahren als Arbeitsmigrant zuwanderte und nun als Direktor des
Community Relations Council
die Person ist, «an die sich alle im Viertel wenden, wenn sie mit der Welt der Weißen nicht allein zu Rande kommen».
    Die Welt der Weißen ist zwar die Folie, vor der sich das konfliktreiche Romangeschehen innerhalb des Migrantenghettos entfaltet und die beim Lesen immer mitzudenken ist, doch als Romanfiguren kommen gebürtige Engländer so gut wie nicht vor. Vielmehr ist es Nadeem Aslam um eine kritische Darstellung des sozialen Klimas zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen innerhalb der pakistanischen Enklave zu tun. Diese hat sich selbst fast vollständig gegen die britische Umwelt abgeschottet, ist unter sich aber in mannigfaltige komplizierte Fehden verstrickt.
    Aus der Perspektive weißer Briten mag das Migrantenviertel wie ein kompakter pakistanischer Fremdkörper inmitten ihrer Stadt wirken – mit eigenen Regeln, eigenem Lebensstil und eigener Kultur. In den Augen der Zuwanderer hingegen besteht ihr in den kalten englischen Norden transferiertes Miniatur-Pakistan aus lauter disparaten und widerstreitenden Einzelgruppen, die zudem zwischen dem Festhalten am Traditionalismus und dem Anpassungsdruck an den Westen hin- und hergerissen werden. Und nirgends prallen die gegensätzlichen Konzepte des Zusammenlebens unversöhnlicher aufeinander als im Normenkonflikt zwischen traditionell arrangierter Ehe und der Liebesheirat nach westlichem Muster.
    Einig sind sich die Ghettobewohner nur in ihrer Ablehnung Englands.«Wir hätten nie in dieses schreckliche Land kommen sollen», seufzt eine Romanfigur, «diese Brutstätte des Bösen, aus der sie Gott verbannt haben.» England ist für sie «ein schmutziges Land, ein unheiliges Land voller Menschen mit ekelhaften Gewohnheiten und Sitten». So sehr ekeln sie sich als

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