Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Lebens im Untergrund, im Weiterhasten von Versteck zu Versteck, immer von einer bewaffneten Polizeieskorte begleitet und bedroht von religiösen Fanatikern, die ihm als Gotteslästerer nach dem Leben trachteten, wie man in «Joseph Anton» detailliert nachlesen kann; der Roman wurde auÃerdem unter Blasphemie-Vorwürfen und Missdeutungen förmlich begraben. Der jahrelange öffentliche Streit um die angebliche Schmähung des Propheten Mohammed führte zu mancherlei tendenziösen Fehllektüren und dazu, dass andere wichtige Aspekte des Romans so gut wie unbeachtet blieben.
Beispielsweise der Aspekt des Migrantentums in allen möglichen Ausformungen. «Wenn â¹Die Satanischen Verse⺠überhaupt etwas sind, dann eine Betrachtung der Welt aus der Perspektive des Migranten», schrieb Rushdie 1990 in seinem Essay «In gutem Glauben», einer Verteidigung seines Romans. Dieser sei entstanden «aus der Erfahrung von Entwurzelung, von Trennung und Metamorphose, die allen Migranten gemeinsam ist, und aus der eine Metapher für die gesamte Menschheit abgeleitet werden kann». Den Vorwurf der Blasphemie sucht Rushdie mit der Feststellung zu entkräften, dass sein Buch «eigentlich nicht vom Islam handelt, sondern von Migration, Metamorphose, gespaltenem Ich, Liebe, Tod, London und Bombay».
In «Die Satanischen Verse» sucht Rushdie den Zusammenstoà zweier gegensätzlicher Kulturen im Gesamtpanorama zu zeigen. Was er hier zur Allegorie verdichten möchte, ist die Konfrontation der islamisch-arabisch-indischen Welt mit der abdankenden Weltmacht, dem abendländischen Mutterland GroÃbritannien. Er thematisiert damit einen 1988 längst schwelenden Kulturkonflikt, der sich in den Jahrzehnten seither einerseits immer mehr verschärft hat, sich andererseits aber auch in mannigfachen kulturellen Amalgamierungen und Inklusionen aufzulösen begann. Rushdies Protagonisten sind indische Migranten in England, entwurzelte und unbehauste Wanderer zwischen zwei Welten: Im Herzen tragen sie noch die Koran-Verse der Kindheit und die religiösen Restbestände der islamischen Wertewelt; sie sind aber bereits überschwemmt vom Rauschen und Blinken einer durchsäkularisierten und kommerzialisierten westlichen Bewusstseinsindustrie.
Rushdies Einwanderer vom Subkontinent tun sich schwer, in London Fuà zu fassen. Ihr Elend ist der kulturelle Identitätsverlust. Sie sind zerrissen zwischen West und Ost, zwischen Glaubensverlust und Glaubenssehnsucht. Sie schwanken zwischen Verwestlichung und Ausgegrenztheit. Ihren Gefühlen von Bodenlosigkeit, Verwirrung und Desorientierung suchen sie mit unterschiedlichen Strategien beizukommen. Einer, der Stimmenimitator Saladin aus Bombay, schwört als anglophiler Inder der eigenen Kultur ab und modelliert sich in seiner Adoptivheimat zum Ãberengländer in Sprache und Lebensstil. Ein anderer, der Schauspieler Gibril, ebenfalls aus Bombay, gefeierter Darsteller hinduistischer Gottheiten in indischen Ausstattungsfilmen, hat seinen Glauben an Gott eingebüÃt und träumt sich nun in das Leben des Propheten Mohammed, in die Ursprungszeiten der islamischen Welt zurück, verliert aber über diesen Phantasmagorien den Verstand.
Just der integrationsfreudige Saladin wird als illegaler Immigrant verhaftet, von Einwanderungsbeamten und Fremdenpolizei als unerwünschter Ausländer misshandelt und kriecht schlieÃlich in den Zuwandererslums von London bei einer Familie aus Bangladesch unter. Unterwegs begegnet er lauter abenteuerlichen Zombies und Mutanten â ein Kunstgriff Rushdies, um durch Ãbertreibung den britischenFremdenhass kenntlich zu machen. Die Ausländer erscheinen missgestaltet allein durch den voreingenommenen englischen Blick: «Die Engländer beschreiben uns, das ist alles. Sie haben die Macht der Zuschreibung, und wir passen uns den Bildern an, die sie von uns konstruieren.»
Beide, Saladin und Gibril, und mit ihnen die ganze Fauna anglo-indischer Hybriden und Luftwurzler, mit denen Salman Rushdie seinen Roman bevölkert, fühlen sich hin- und hergezerrt zwischen Ost und West. Sie sind geschlagen mit der doppelten Perspektive: Auf Indien blicken sie mit verwestlichten Augen, als glaubenslose Skeptiker; aber England betrachten sie mit der sehnsüchtigen Fremdheit heimwehkranker Emigranten. Dieses Dilemma entsprach Rushdies ureigener Problematik in den 1980er Jahren, wie er in
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