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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Jahrzehnt Margaret Thatchers. Unter ihrer Regierung hatten Zuwanderer wenig zu lachen. Der Werbetexter und angehende Autor Rushdie erlebte damals das London der Immigranten als «ein London der Benachteiligungen und Vorurteile, eine sichtbare, doch ungesehene Stadt», wie er in seiner Autobiographie schreibt. «Die Immigrantenstadt lag vor aller Augen in Southall, in Wembley und in Brixton, auch in Camden, doch hat man ihre Probleme damals größtenteils ignoriert, falls es nicht gerade zu Eruptionen rassistischer Gewalt kam.»
    Die Stadt war gespalten in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil. Die Brick Lane in Ost-London etwa scheint als Enklave zumeist bengalischer Einwanderer für die Mehrheitsbevölkerung so gut wie unsichtbar gewesen zu sein, ehe Monica Ali diese Straße in ihrem gleichnamigen Roman ins allgemeine Bewusstsein hob. «Großbritannien besteht aus zwei völlig verschiedenen Welten, und in welcher von den beiden man lebt, wird ausschließlich durch die Hautfarbe bestimmt», stellt Rushdie in einem Essay aus dem Jahr 1982 fest, derunter dem Titel «The New Empire within Britain» für Diskussionen sorgte, wird darin doch ein neues Empire-Modell zugleich proklamiert und angeklagt.
    Nach vierhundert Jahren englischer Dominanz über die halbe Welt, so lautet Rushdies Argumentation, haben die Briten ihre Kolonien ebenso übereilt wie unwillig in die Unabhängigkeit entlassen, vielmehr: sich selbst überlassen. Was sie in den Ex-Kolonien zurückließen, waren Parlamente, das Schulsystem und das Justizwesen, die Cricket-Regeln und der Linksverkehr. Mit dem Ende des Empire setzte die Gegenbewegung ein. Auf den Aufbruch der Kolonisatoren in alle Welt folgte der Aufbruch der Kolonisierten – in die Gegenrichtung. Die Kolonialvölker von einst strömten in das englische Mutterland und bildeten ein neues Empire inmitten von Großbritannien. In Rushdies Worten: «Es scheint, dass die britischen Behörden, da sie nicht mehr in der Lage sind, Regierungen zu exportieren, stattdessen beschlossen haben, ein neues Empire zu importieren, eine neue Gemeinschaft von Untertanenvölkern.»
    Der britische Rassismus, so Rushdies Wahrnehmung, sei derselbe geblieben, nur mit dem Unterschied, dass die weißen Sahibs ihre Untertanenvölker nicht mehr in fernen Erdteilen, sondern gleich nebenan vorfinden, eben als «Neues Empire in Großbritannien». Und dieser Art von institutionellem Rassismus spielte die gewollte Ignoranz der weißen Öffentlichkeit in die Hände, die sich blind stellte und nicht betroffen fühlte, als im
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esetz von 1981 schwarze und asiatische Briten ihrer Bürgerrechte beraubt wurden.
    Rushdie erinnert daran, dass es ursprünglich das Mutterland selbst war, das – Stichwort «Generation Windrush» – Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien herbeirief. Die Zuwanderer aus der Karibik, vom indischen Subkontinent und aus Afrika «kamen, weil sie darum gebeten wurden. Die Regierung Macmillan startete eine großangelegte Werbekampagne voll Hoffnung und Optimismus, bei der Großbritannien als Land der Fülle dargestellt wurde, eine wunderbare Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Und sie zeitigte Wirkung. Die Menschen kamen voll Vertrauen und in dem Glauben hierher, dass sie erwünscht seien. Und so wurde das neue Empire importiert.»Doch das Land, in das die Einwanderer kamen, war «nicht das England des Fairplay, der Toleranz, des Anstands und der Gleichheit», schreibt Rushdie – und er schreibt aus eigener Erfahrung.
    Nirgends hat Rushdie das Unbehagen an seinem eigenen Außenseitertum als Zuwanderer in England, sein Gefühl der Fremdheit, Zwiespältigkeit und Unzugehörigkeit, sein eigenes schmerzlich zerrissenes Ich beredter und leidenschaftlicher thematisiert als in «Die Satanischen Verse», seinem berüchtigtsten und am meisten missverstandenen Werk. Der Roman erschien im September 1988 in London und trug Rushdie am Valentinstag 1989 die Fatwa des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini ein, das islamische Todesurteil als Gotteslästerer und Apostat. Für dessen Vollstreckung setzte der Schiiten-Papst mehrere Millionen Dollar Belohnung aus.
    Der Roman – Rushdies vierter nach «Grimus», «Mitternachtskinder» und «Scham und Schande» – bescherte dem Autor nicht nur zehn Jahre eines gehetzten

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