Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
der Stimmung in ihren literarischen Erzähltexten zu vergleichen, der Debüt-Erzählung «TheSex Lives of African Girls» und dem Erstlingsroman «Diese Dinge geschehen nicht einfach so». Der Unterschied ist deutlich. Dort zeigt sich die Autorin ins Gelingen verliebt; hier beschreibt sie das Misslingen. Narrative Prosa gestattet nun einmal abdunkelnde Differenzierungen und düstere Einfärbungen der Stimmung, die ein schickes Thesenpapier nicht zulässt. In ihrer Erzählung und ihrem Roman schaltet Selasi vom optimistischen in den skeptischen Modus. Aus diesen Texten spricht weniger ein souveränes und siegesgewisses Selbstgefühl als vielmehr ein klares und kühles Bewusstsein für die Schattenwelt des Elends afrikanischer Rückständigkeit und der Scham über Rückschläge und das Scheitern migrantischer Lebensläufe. Dieses durchdringende Gefühl von Elend und Scham kann vom Glanz und Glamour afropolitischer Erfolgslegenden allenfalls überstrahlt, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden.
Die Erzählung «The Sex Lives of African Girls» setzt ein mit der alarmierenden Feststellung, am Anfang des Geschlechtslebens afrikanischer Mädchen stehe unvermeidlich ein Onkel. Es ist eine beklemmende und düstere Geschichte. Erzählt wird mit Härte und distanziertem Blick vom sexuellen Missbrauch dreier Frauengenerationen in patriarchalisch strukturierten afrikanischen Familien. Die Perspektivfigur ist ein elfjähriges kleines Mädchen, Edem, die im Haus ihres wohlhabenden Onkels und ihrer Tante in Accra, der Hauptstadt von Ghana, lebt. Der Onkel hat die Kleine aus Nigeria geholt, sie sozusagen aus den Händen ihrer Mutter, seiner Schwester, einer Prostituierten, gerettet.
Im Haushalt des Onkels wird eine Party vorbereitet, doch in all die muntere Betriebsamkeit der Hausgenossen und der Dienerschaft schleicht sich ein Gefühl der Bedrohung und Gefährdung ein, eine Stimmung latenter sexueller Dynamik, die Edem zwar lebhaft spürt, aber nicht versteht und für die sie noch keine Begriffe hat, auch nicht, als sie zufällig ihren Onkel in einem Zimmer überrascht, das junge Dienstmädchen Ruby zwischen seinen Beinen kniend, den Kopf in seinem SchoÃ, wobei merkwürdige nasse Geräusche gemacht werden und der Onkel bizarr winselt wie ein Hund, bevor er geschlagen wird.
Die Geschichte baut einen Spannungsbogen auf vom Nichtwissendes Anfangs zum bedrückenden Wissen am Ende, wobei das kleine Mädchen seiner Unschuld beraubt und überdies offenbar wird, dass der Onkel auch seine Mutter und seine Tante missbraucht hat, ja, dass Missbrauch und sexuelle Gewalt durch männliche Anverwandte ein gängiges familiäres Muster darstellen. All dies erzählt Taiye Selasi in einer Du-Stimme, die das kleine Mädchen anspricht und sich strikt innerhalb von dessen Wahrnehmungs- und Verständnishorizont hält. Das verleiht der Erzählung eine verzweifelte Stimmung von Zwangsläufigkeit â die Demütigungen der Frauen erscheinen unausweichlich.
Auch durch Taiye Selasis Roman «Diese Dinge geschehen nicht einfach so» geistert eine bedrohliche, sexuell gefährlich aufgeladene Onkel-Figur. Auch dieser Onkel treibt in einem wohlhabenden Haushalt in Accra sein herrscherliches Unwesen; er ist Teil von Ghanas krimineller Machtkaste, ein Gangster und dekadenter Drogenbaron. Das schöne, unschuldige Zwillingspaar Taiwo und Kehinde wird durch seine sexuelle Nötigung schwer traumatisiert. Doch dies wird erst spät im Roman enthüllt, in einem Rückblick, der so manche mysteriösen Brüche und Verwerfungen in der Familie der Zwillinge im Nachhinein begreiflich macht.
Der Roman erzählt eine transkontinentale migrantische Familiengeschichte, wobei sich die Autorin unübersehbar an ihrer eigenen Biographie orientiert. So manche biographische Daten aus Selasis Leben tauchen auch im Roman auf: der aus Ghana stammende Arzt-Vater, die nigerianische Mutter, das Aufwachsen der Zwillinge, ihres älteren Bruders und ihrer kleinen Schwester in Brookline, Massachusetts, der zunehmende Wohlstand, der Umzug in ein gröÃeres Haus in einer besseren Wohngegend, die glanzvollen akademischen Karrieren der Kinder, das Pendeln der Familie zwischen den USA, England und Ghana.
Doch die aufsteigende Linie des familiären Erfolgsprojekts kippt und wendet sich ins Tragische. Etwas geht verheerend schief. Taiye Selasi
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