Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
konzentriert sich auf den emotionalen Preis, der für den Aufstieg zu entrichten ist â in Gestalt von Scham, Verzweiflung, Entzweiung, Entfremdung, Verrat und Zerrüttung. Dreh- und Angelpunkt ist eine Katastrophe, die die Familie zerreiÃt, ihr den Boden unter den FüÃen wegzieht und sie auf drei Kontinente versprengt: «eine Familieohne Schwerkraft und ohne Fundament». Und diese Dinge geschehen nicht einfach so â sie haben eine fatale, wenn auch unverschuldete Ursache. Wie mühsam und schmerzhaft es ist, eine desorientierte, zerbrochene Familie wieder zusammenzufügen und zu heilen, ist das eigentliche Thema des Romans.
Vor dem Desaster baut die Autorin eine beträchtliche Fallhöhe auf, um den Absturz zu dramatisieren. Ihre Familie Sai ist eine überehrgeizige westafrikanische Migrantenfamilie mit allen Voraussetzungen für eine glanzvolle Integration in Amerika: Talent, FleiÃ, Leistungswille, Zähigkeit, Zusammenhalt, moralische Stärke und blendendes Aussehen.
Der Vater Kwaku Sai, der es als vaterloser Junge aus einem Lehmhüttendorf in Ghana zum Medizinstudium an ein amerikanisches Ostküsten-College geschafft hat, erwirbt seine Facharzt-Zulassung in den USA und wird Chirurg â kein gewöhnlicher, sondern «ein auÃergewöhnlich guter Arzt», ein «Künstler am Skalpell», ein «Chirurg, der seinesgleichen sucht». Seine Frau Fola, die 1967 vor dem Bürgerkrieg aus Biafra geflohen ist und sich nach Ghana retten konnte, ist nicht nur eine schöne Frau, sondern «eine pannigerianische Prinzessin». Olu, der älteste Sohn der beiden, macht â als brillanter Arzt wie sein bewunderter Vater â eine Bilderbuchkarriere und lebt überdies eine modellhafte, ethnisch hybride Liebesbeziehung mit der Kinderärztin Ling, der Tochter eines chinesischstämmigen Professors am MIT in Cambridge, Massachusetts. Die jüngste Tochter Sadie studiert in Yale, und dass die Zwillinge Taiwo und Kehinde wahre Wunder an Exzellenz sind, wurde bereits angedeutet. Kehinde macht als Maler, «ein zweiter Basquiat», in der internationalen Kunstszene eine fulminante Karriere, und die hinreiÃende Taiwo ist überdies auch noch eine atemberaubende Studentin â immer schon Ãberfliegerin, immer schon Jahrgangsbeste, Rhodes-Stipendiatin, Abschluss mit Auszeichnung am Magdalen College, Oxford, danach blendende Columbia-Studentin in New York.
Taiye Selasi türmt diese Gipfelleistungen ihrer Romanfamilie eigens in solch schwindelerregende Höhen, um sie im Sturz umso wirkungsvoller zu zerschmettern. Denn der Meister-Chirurg Kwaku Saiwird wegen eines angeblichen Operationsfehlers über Nacht fristlos entlassen â ein Unrecht und eine existenzielle, weil letztlich rassistische Kränkung. Es ist die Scham über diesen Hinauswurf, die sein Leben zerstört. Dass sein Sohn Kehinde Augenzeuge seiner Schande war, macht die Sache noch schlimmer. So wort- und spurlos wie abrupt verlässt der Vater die Familie, kehrt an seinen Ausgangspunkt zurück und verkriecht sich mit seiner Schande in Ghana. Die Scham bricht ihm buchstäblich das Herz. Er stirbt mit 57 an einem Herzinfarkt.
Und damit ist die Autorin bei ihrem eigentlichen Romanthema angelangt â dem Scheitern eines vielversprechenden Integrationsprojekts am unterschwelligen amerikanischen Rassismus, dem Zerbrechen und neuerlichen Zusammenfügen einer entorteten, globalisierten Familie. Den Anlass bietet das Begräbnis des Vaters in Ghana. Nach jahrelanger Entfremdung und Zerstreuung kommt es in Accra und im Herkunftsdorf des Vaters zum gemeinsamen Treffen der vier Geschwister und ihrer Mutter. Dieses Treffen wühlt alle und alles auf â der Roman mündet in einen wahren Rausch multipler Beichten, Aussprachen, Entschuldigungen und tränenreicher Versöhnungen. Allerdings: Die Familie Sai bleibt ein locker gefügter Verband von Luftwurzlern, die «nie ein Zuhause finden würden, jedenfalls kein Zuhause, das Bestand haben würde». Sich irgendwo in der westlichen Welt häuslich niederlassen zu wollen, war ein Fehler des Vaters, der nicht wiederholt werden wird.
Diese Erkenntnis offenbart sich Taiwo bei einem Strandspaziergang nahe dem väterlichen Dorf in einem eindrücklichen Bild. Sie kommt an einem Gebäude aus der britischen Kolonialzeit vorbei â einem einst herrschaftlichen Strandhaus mit Terrassen und Säulen, «immer
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