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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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noch dominant und Achtung gebietend», wenngleich längst verlassen und mit leeren Fensterhöhlen dem Zerfall preisgegeben. «Taiwo bleibt stehen und betrachtet das Gebäude. Es wirkt deplatziert in dieser Umgebung, so wie sie sich immer gefühlt haben, eine afrikanische Familie in Brookline.»
    So unpassend wie dieses Haus einer weißen Familie an einem Strand in Ghana empfindet Taiwo nun das Haus ihres Vaters inmitten der Häuser weißer Familien in Brookline – kein Zuhause, das Bestandhaben konnte, sondern ein stures und freudloses Manifest des Aufstiegswillens, doch «ohne die Aura der Dominanz, des Selbstvertrauens und der Dauerhaftigkeit». Vaters Haus in der neuen Welt war nur eine kurzfristige Eroberung, die rasch wieder verloren ging, «wahrscheinlich zurückverkauft an eine rosagesichtige Familie, Nachkommen der Pilgerväter, die sich besser auskannten mit Dominanz. Dem neuen Jungen weggenommen, den Einheimischen zurückgegeben, den Cabots oder Gardeners oder Pallys, nicht den Sais.»
    Und jetzt erklärt sich auch die hintergründige Bedeutung des Romantitels im amerikanischen Original: «Ghana Must Go». Damit ist nicht nur die historische Vertreibung im Winter 1983 gemeint, als die nigerianische Regierung unter dieser Parole kurzerhand zwei Millionen ghanaischer Gastarbeiter deportierte und ins Elend nach Ghana zurückschickte; Taiye Selasi macht aus dem nigerianischen Vertreibungsslogan von damals eine Metapher für die migrantische Existenz der Afrikaner im Westen – eine transitorische, nomadische Lebensweise der Nicht-Sesshaftigkeit, die einzig im Unterwegssein einen Halt finden kann. Ghana must go.
    Taiye Selasi ist nicht das einzige schöne Gesicht der neuen, auf Englisch geschriebenen postkolonialen Literatur aus Westafrika. Da gibt es auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie, Jahrgang 1977, die von der Zeitschrift «New Yorker» zu den «Twenty Under Forty» gezählt wird und in deren jüngste Liste der zwanzig besten jungen amerikanischen Autoren unter vierzig aufgenommen wurde. Auch sie richtet, zumindest in ihrem jüngsten Erzählungsband «Heimsuchungen», ihr Augenmerk auf die Generationselite der «Afropoliten», die ihren neuen Reichtum und ihre souveräne Bewegungsfreiheit zelebrieren, wiewohl Adichie die Selbstbegeisterung Taiye Selasis als sieghafte Afropolitin nicht unbedingt teilt. Auch in Adichies Erzählungen geht es um die komplexen Identitätsmischungen junger Afrikaner, die im Ausland leben und doch das kulturelle Gepäck ihrer oft schwierigen Herkünfte mit sich herumtragen; es geht ferner um die nomadische Existenzweise von Migranten, was sich schon in dem doppeldeutigen Titel «Heimsuchungen» verrät. Adichie kommt wie Selasi aus einer Akademikerfamilie und führt ein Pendelleben zwisehenden Kontinenten mit Wohnsitzen in Columbia bei Baltimore und der nigerianischen Hauptstadt Lagos.
    Nkem und Obiora in ihrer Erzählung «Imitation» sind ein solches erfolgreiches Afropoliten-Paar mit Wohnsitzen in Lagos und in einem schicken Vorort von Philadelphia. Obiora darf sich zu den fünfzig einflussreichsten nigerianischen Geschäftsleuten zählen; er hat neuerdings in Lagos einen großen Regierungsauftrag an Land gezogen und kommt Nkem und die Kinder alle paar Wochen in Philadelphia besuchen. Nkem, ein einfaches Mädchen aus dem Busch mit einem allerdings makellosen Gesicht, ist stolz, «weil sie in die begehrte Klasse eingeheiratet hat, in die Klasse der reichen Nigerianer, die ihre Frauen für die Geburt der Kinder nach Amerika schicken». Sie kann sich nun zu den überversorgten und etwas gelangweilten grünen Witwen aus Suburbia rechnen, mit Gärtner und nigerianischem Hausmädchen, und lebt im Grunde nur den Besuchen des Gemahls entgegen. Dass der Ehemann Obiora lieber in Nigeria wohnen bleibt und nur in den Ferien und besuchsweise in die USA kommt, hat (außer einer Mätresse in Lagos) vor allem einen Grund, den eine Freundin Nkems ganz unverblümt ausspricht: «Weil Amerika keine Großen Herren anerkennt. In Amerika sagt keiner zu ihnen: ‹Sir! Sir!› Keiner kommt angestürzt und staubt ihre Sitze ab, bevor sie Platz nehmen.»
    Diese Autorin hat einen scharfen Blick für die Brüchigkeiten und Fragwürdigkeiten hinter der afropolitischen Glanzfassade. Sie sieht die unsichtbaren Rassenschranken, auch dort, wo diese

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