Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
für das erlittene Unrecht ihrer Väter das kollektive Besitz- und Verwaltungsrecht für das Land, auf dem sie leben, zugesprochen hat, ist in der Praxis wenig geschehen. Großgrundbesitzer und Agrarkonzerne unterlaufen einfach die gesetzlichen Bestimmungen, zögern Rechtsstreitigkeiten in die Länge, zerstören durch exzessive Bodennutzung und Abholzungen die natürlichen Lebensgrundlagen – Brasília ist weit weg. Und Projekte von Hilfsgruppen, wie das in Matões dos Mareira, 300 Kilometer südlich der Provinzhauptstadt São Luis im Niemandsland gelegen, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Immerhin ist es in dieser Quilombo gelungen, eine Produktionsstätte für Naturöl aus der örtlichen Babaçunuss zu schaffen. Und wie so oft in Brasilien, wie so oft auf allen Kontinenten, sind es die Frauen, die diese positiven Veränderungen bewirken.
Anders als früher berichtet die brasilianische Presse jetzt über solche Exzesse, prangert die Verbrecher und Umweltsünder an. Und anders als früher gibt sich das Land jetzt betont kosmopolitisch, weltoffen. Die Regierung hat erkannt, dass es zu wenig gut ausgebildete junge Menschen gibt, vor allem auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und im Ingenieurwesen. Sie stellt bis zum Jahr 2014 allein für 75000 Stipendien knapp zwei Milliarden US -Dollar zur Verfügung, weitere 25000 Stipendien sollen von der Industrie finanziert werden. Kaum ein Staat hat ein so ehrgeiziges Förderprogramm wie Brasilien mit seiner »Wissenschaft ohne Grenzen« – eines der Hauptziele der Hochbegabten soll Deutschland sein.
»Wir wissen, dass wir keine Insel sind. Wir schauen auf andere und andere schauen auf uns«, sagt die Präsidentin bei einer dieser sehr seltenen Gesprächsrunden, aus denen man zitieren darf. Und dann geht sie, die sonst Privates strikt außen vor lässt, doch einmal auf die Ereignisse in ihrem Leben ein, die sie besonders geprägt haben. »Im Gefängnis lernst du zu überleben. Aber du lernst auch, dass sich Probleme nicht über Nacht lösen lassen. Warten heißt Geduld, und Geduld heißt, niemals die Hoffnung zu verlieren, wenn es irgendwo brennt. Ich habe das gelernt.«
Die Frage nach Berufswünschen in der Kindheit beantwortet sie wie aus der Pistole geschossen: »Primaballerina oder Feuerwehrfrau.« Für das eine fehlte ihr dann doch das Fingerspitzen-, das Zehenspitzengefühl, die Leichtigkeit. Den anderen Traum, Feuer zu löschen und, wo immer es geht, Brandherde erst gar nicht entstehen zu lassen, diesen Traum aber glaubte Dilma Rousseff sich erfüllt zu haben – bis im Sommer 2013 die Proteste so überraschend über ihr zusammenschlugen.
Im Juli 2013, nach dem durch Massendemonstrationen überschatteten Confed Cup, hatte ich dann die Gelegenheit, Ex-Präsident Lula da Silva bei einem Treffen in einem privaten Rahmen zu seinen Zukunftsplänen zu befragen. Lula zeigte sich bestens gelaunt und in kämpferischer Stimmung, von seiner schweren Krankheit war nichts zu spüren. Zu den Hunderttausenden Demonstranten auf den Straßen in der Heimat äußerte er sich eher nonchalant: »Glücklich ist ein Land, in dem das Volk die Freiheit hat, zu protestieren und die Politiker offen auffordern kann, noch mehr und noch schneller etwas für den Fortschritt zu tun. Demokratie ist kein Pakt der Verschwiegenheit und Selbstzufriedenheit.«
Lula liegt bei Meinungsumfragen derzeit weit vor allen Vertretern der Opposition, vor Dilma Rousseff und auch noch vor dem neuen Polit-Star Barboza: 57 Prozent hätten ihn gern als nächsten Staatschef. Will er bei den Wahlen 2014 nicht doch wieder kandidieren, wenn ihn so viele für den Besten halten? Da lacht Lula da Silva, so laut und so herzlich, dass sein Bart vibriert. »Nein, nein, auf keinen Fall«, sagt er, mit sich und seinem Vermächtnis offensichtlich erstaunlich im Reinen. »Dilma macht das schon.«
TEIL III Wurzeln
7 CHINA
Wenn Konfuzius das wüsste
Vielleicht ist es der schönste Friedhof der Welt, auf jeden Fall aber: eine Hymne auf das Leben. Pistazienbäume und Pyramidenpappeln rauschen im Wind, Zikaden zirpen entlang verwunschener Zypressenhaine, Frösche quaken aus einem nahen Teich. Überall an den geharkten Wegen – und vor allem jenseits davon, im mannshohen, wild wuchernden Gras – wachen steinerne Tiere über verwitterte Grabstelen. Löwen mit gefletschten Zähnen, Feinden auflauernd; grimmige Greifvögel, die so wirken, als seien sie vom Himmel herabgesandte Racheengel; elegante Panther auf dem Sprung
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