Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
sich immer noch ängstlich umschauend. Die Zeiten waren so, dass immer noch mit einer Rückkehr der Radikalen gerechnet werden musste. Wir hatten uns auf seinen ausdrücklichen Wunsch zum Gespräch in den Konfuzius-Wald zurückgezogen, nach Mitternacht musste es sein. Aber wir fanden es dann beide unheimlich, nur so im Schein der Taschenlampe unter den Bäumen zusammenzustehen. Bedrohliche Geräusche und Schatten, wohin wir sahen. Auch wenn es wohl keine Geheimdienstler waren, sondern eher Tiere, die durchs hohe Gras huschten.
Man durfte wieder Vögel in Käfigen halten, die lange Zeit verfemten Kampfgrillen züchten, kleine Hunde als Haustiere waren rehabilitiert. Ein Hauch von Privatleben hatte wieder Einzug gehalten. Meister Kong war noch nicht rehabilitiert, sein Name wurde in den Medien totgeschwiegen. Immerhin, es tat sich was. Alle im Ort berichteten mir stolz, lokale Parteigrößen hätten wieder offiziell seinen Geburtstag gefeiert. Und an jenem 28. September wären in den »Konfuzius-Mansions«, im alten Herrenhaus der Familie, Experten zu einer Konferenz über die Lehren des Weisen zusammengekommen. Es war die erste solcher Konferenzen in einer langen Reihe – bei jedem meiner späteren Besuche in Qufu wurde das Symposium größer und von Zahl und intellektuellem Gewicht der Teilnehmer her eindrucksvoller. 2012 traf man sich in der neugegründeten Konfuzius-Akademie der Stadt, selbst Konfuzius-Verwandte aus Taiwan und den USA wurden eingeladen. Da schien mir die größte Gefährdung für den Weisen nicht mehr von der Politik auszugehen, sondern eher von den übereifrigen Stadtvätern, die aus jedem zweiten Haus eine neue lukrative Konfuzius-Gedenkstätte mit Eintrittsgeldern machten. Die mit bunten Laserlichtern und in die Stadtmauern »integrierten« Bars dem einst so beschaulichen Qufu den letzten Charme zu entreißen drohten.
Längst ist die 600000-Einwohner-Stadt mit ihrem ganz besonderen Erbe eines der beliebtesten Ziele chinesischer Touristen – mehr als vier Millionen Menschen strömen jährlich hierher. Viele Reisen werden von der Kommunistischen Partei bezuschusst. Die Partei, die doch auch für die Schändung der heiligen Stätten verantwortlich war, hat bei der Unesco durchgesetzt, dass Qufu offiziell zum Weltkulturerbe gehört. Die Pilger zieht es an den Ort, wo der Meister einst seine Jünger versammelt haben soll und heute die riesige Tempelanlage mit dem Aprikosen-Altar steht. Sie machen Fotos an einem nahen Brunnen, den eine historisch höchst zweifelhafte Inschrift ziert: »Hier labte sich Meister Kong!« Sie begehen andächtig das traditionelle Familienanwesen mit seinen 463 Zimmern und Granatäpfelgärten, wo die Nachfahren des Weisen (»die Erste Familie unter dem Himmel«) Wohnrecht genießen. Sie schlemmen bei teuer bezahlten Konfuzius-Banketten angebliche Lieblingsspeisen des Alten, 48 Gerichte werden gereicht. Sie blättern in den »garantiert authentischen« Büchern und Spruchsammlungen, die nebst historischen Darstellungen des Meisters überall angeboten werden. Und fast jeder Pilger nimmt sich von einem der zahlreichen Andenkenstände nahe der alten Stadtmauer einen Kong-Kalender, einen Kong-Wecker oder einen Kong-Schnaps mit.
Was ist wirklich verbürgt über das Leben dieses Mannes, über seine Lehren, die ein solch riesiges Nachbeben ausgelöst haben? War er ein Religionsstifter oder ein weltlicher Philosoph, und eignen sich die 2500 Jahre alten Gedanken wirklich dazu, die von der KP -Spitze so vehement geforderte »Harmonie« über das Reich der Mitte zu bringen? Helfen sie, aufsässige Jugendliche zu disziplinieren, korrupte Kader auf den rechten Weg zu bringen, liefern sie gar Rezepte für Chinas Wirtschaftstriumphe in den Zeiten der Globalisierung?
Konfuzius war jedenfalls eine in jeder Beziehung ambivalente, ungewöhnliche Gestalt. Es ist völlig unklar, ob er selbst etwas zu Papier brachte, die meisten Historiker gehen davon aus, dass er nur durch und über seine Jünger etwas der Nachwelt übermittelt hat. Doch niemand glaubt, dass es sich bei ihm um eine fiktive Gestalt handelt: Der Meister hat gelebt, er hat seine Umwelt genau beobachtet, politische Bewegungen reflektiert – und in erstaunlicher, ja geradezu revolutionärer Weise eingeordnet.
Er stammt angeblich aus einer »wilden Vereinigung«, einer illegitimen Beziehung. Der Vater, aus einem mittleren Adelsgeschlecht stammend, soll gestorben sein, als er drei war. Die Mutter betete zu Berggöttern, sie war
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