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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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gegen mögliche Störenfriede. Eine sieben Meter lange, drei Meter hohe Mauer umschließt diesen Märchenwald-Friedhof. Er umfasst 200 Hektar Land, 100000 Bäume und über 10000 Gräber. Damit ist die Nekropole größer als das Wohngebiet der nahen Stadt, zu der sie gehört. Das gibt die Rollenverteilung korrekt wieder – die Toten zählen hier mehr als die Lebenden, hier in Qufu in der chinesischen Provinz Shandong, etwa auf halbem Weg zwischen Peking und Schanghai.
    Das Grab der Gräber auf diesem Gottesacker wird von überlebensgroßen marmornen Kaiserboten eingerahmt, aber es ist nicht mehr als ein schlichter Hügel mit einer Stele aus der Ming-Zeit und einer in Gelb gemeißelten Aufschrift: »Hier ruht Meister Kong«. Sonst nur noch die Lebensdaten des Mannes, den wir im Westen Konfuzius nennen, weil die Jesuiten das so übermittelt haben; nach unserer Zeitrechnung lebte er 551 bis 479 vor Christus. Wahrscheinlich wäre selbst das dem Weisen, der hier geboren wurde und auch starb, noch zu viel der Ehrerbietung und des Jenseits-Betonten gewesen. Er hielt es nämlich mehr mit den praktischen Dingen des Alltags, den Regeln für die Gemeinschaft, den Vorschriften für das Zusammensein von Alt und Jung, Regierenden und Untergebenen. »Wir wissen so wenig über unser Leben auf Erden, dass es kaum Sinn ergibt, uns darüber den Kopf zu zerbrechen, was nach unserem Tode kommt«, soll der pragmatische Philosoph nach der Überlieferung gesagt haben. Ein Religionsstifter, der die Götter verachtete. »Also lasst uns überlegen, wie wir unser diesseitiges Dasein optimal gestalten.«
    Seine Lehren haben China so stark geprägt wie die Botschaft des Jesus von Nazareth Europa und auch Staaten wie Brasilien. Kong Qiu, wie sein korrekter Name lautet, war in der Geschichte dieses Landes als Teufel verfemt und als Gottgleicher verehrt. Seine Gedanken wurden auf den Müllhaufen geworfen, dann wieder hoch geschätzt, nach Gutdünken zurechtgebogen, um ihn mal als Revolutionär, mal als Reaktionär darzustellen. Gegenwärtig gilt er allen Wichtigen im Land als große historische Figur. Politiker in Peking bezeichnen ihn als ihren moralischen Kompass, manchen in der KP dient er nach eigenen Aussagen sogar als Autorität für ihre Gesetzesvorhaben, als ultimativer Polit-Guru. Eines ihrer Lieblingszitate des Meisters wird häufig herangezogen: »Rückständigkeit und Mängel werden nur dadurch unschädlich, dass sie verbessert werden. Sonst werden sie zu habituellen Eigenschaften, die den Menschen hinabziehen. Deshalb macht es mir den größten Schmerz, verpasste Gelegenheiten des Fortschritts mit ansehen zu müssen.«
    Als ich zum ersten Mal den Ort Qufu besuchte, war das noch ganz anders, da wagten nur die Mutigsten, Konfuzius eine positive historische Rolle zuzuschreiben, geschweige denn ihn als Vorbild zu stilisieren. Es war 1980, Deng Xiaoping hatte sich gerade erst mit seinem pragmatischen Kurs durchgesetzt. Der Strafprozess gegen die Viererbande um die Mao-Witwe Jiang Qing und die anderen Ultralinken in der Partei lief, der Tod des Großen Vorsitzenden lag noch keine vier Jahre zurück. Für Mao Zedong war Konfuzius immer das Feindbild schlechthin gewesen: ein Ewiggestriger, der den falschen chinesischen Traditionen anhing, überkommene Hierarchien pflegte und die »Ausbeutung der Menschen« verfestigte. Maos »Große Proletarische Kulturrevolution«, die er 1966 angefacht hatte und die fast ein Jahrzehnt lang das Land in ihrem Bann hielt, hatte ja gerade die endgültige Zerschlagung des Althergebrachten durch die permanente Revolution zum Ziel.
    Die jugendlichen Roten Garden wurden ermuntert, sich mit allen Autoritäten anzulegen. Sie verprügelten nicht nur Lehrer, Polizisten und Bürgermeister, sondern zerstörten auch mutwillig Kulturschätze – »verachtenswerte Relikte des Vergangenen«, wie das damals hieß. In Qufu haben sie besonders schlimm gewütet. Sie rissen die Gedenkstelen um, sie zerhackten die steinernen Schildkröten, sie gruben sogar Gebeine aus und warfen sie auf die Straße. Die Leiche aus dem jüngsten Kong-Familiengrab holten sie aus dem Sarg und hängten den fahlen Körper nackt an einen Baum, peitschten ihn aus. Die älteren Bewohner der Stadt reagierten auf ihre Weise – sie versuchten zu retten, was zu retten war. »Ich habe mehrere antike Jadefiguren in meinem Garten vergraben und sie jetzt wieder an ihren alten Platz gebracht«, erzählte mir 1980 ein pensionierter Mittelschullehrer, flüsternd und

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