Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Eindruck, die Menschen wollten mit ihrer Volksgläubigkeit einfach auf der sicheren Seite sein und zu allen erdenklichen Göttern beten. Weil man ja nicht so ganz genau wissen konnte, welches Gebet, welches Ritual einen weiterbringen würde. Im Diesseits. Vom Jenseits war selten die Rede. Und doch, da waren sich fast alle einig, gibt es bestimmte Orte, an denen man beispielsweise den Daoismus besonders gut verstehen kann, durch eigenes Zutun erleben kann. Auf einem der fünf heiligen Berge der Religion nämlich.
Welchen sollte ich denn besteigen? Beratung unter meinen chinesischen Freunden. »Den Hua Shan nahe des Gelben Flusses solltest du besteigen, das ist der spektakulärste Berg mit steil abfallenden Felswänden und in den Stein gehauenen Stufentreppen, die sind nur mit Ketten gesichert. Da schwebst du auf der sogenannten Himmelsleiter geradezu über der Landschaft. Das ist allerdings nur etwas für Schwindelfreie.« Und sie zeigten Bilder, die mich schon beim Ansehen ängstlich machten. Ich winke ab. Wenn ich mich denn für einen Gipfel entscheiden müsste, nur für einen, wie sie etwas enttäuscht sagten, dann sei ja alles klar, dann käme der gefährlichste ohnehin nicht infrage – der Tai Shan müsste es sein. Der berühmteste, heiligste, zugänglichste. »Anstrengender Aufstieg, aber machbar auch für mäßige Sportler.« Klang nach meinem Berg.
Es zeigte sich, dass er so leicht doch nicht zu bezwingen war. 1545 Meter, das hört sich eher wenig dramatisch an, nach deutschem Mittelgebirge; aber da man aus einer Tiefebene aufsteigt, muss fast der ganze Höhenunterschied bewältigt werden. Die Strecke hinauf misst neun Kilometer, 6293 Stufen sind zu bezwingen. Aber dabei ist man niemals allein, Pilger jeder Altersgruppe keuchen auf den steileren Passagen neben mir, besonders tapfere Frauen haben ihre Kleinkinder auf den Rücken geschnallt, alte Männer gehen in Gruppen und stützen sich auf Stöcke.
Der Tai Shan wirkt wie ein mächtiger Koloss, hineingepflanzt in das flache Küstenvorland. Als Wächter des Reiches haben ihn die frühen Herrscher immer verstanden, als göttliche Bastion, die dem guten Regenten den Segen gibt, Katastrophen fernhält. Fast jeder, der etwas zählt in China, hat diesen Berg bestiegen, sein Zeichen tai steht für Wohlstand und Frieden. Konfuzius wie Mao waren unter den prominenten Gipfelstürmern. Und auch Qin Shi Huang, der ebenso brutale wie effektive erste Kaiser; er soll nach der Legende vom Tai Shan aus 219 vor Christus die »endgültige« Einheit des Reiches verkündet haben. Als eifrigster Besteiger gilt der Qing-Kaiser Qianlong, der im 18. Jahrhundert sechsmal hier heraufgekommen sein soll, um die wichtigen Opfer-Rituale für die Götter zu vollziehen. Geschadet hat ihm sein religiöser Eifer jedenfalls nicht. Mit 61 Jahren Regierungszeit steht Qianlong in China an der Spitze der ausdauerndsten Herrscher.
Der Anstieg zum »Südlichen Himmelstor« ist abwechslungsreich, er führt durch große Tore an zahlreichen Tempeln und Palästen vorbei. Die Felsformationen wirken wie ein Freilichtmuseum der berühmtesten Kalligrafen. Neben Gedichten sind auch eher banale Nachrichten in Stein gehauen: »Der Kaiser blickt zurück« oder »Der Kaiser steigt vom Pferd«. Und weiter bergan dann grundsätzlichere Gedanken. Von Mao: »Der Osten ist rot«. Aus unbekannter Quelle: »Es ist leicht, Berge und Flüsse zu versetzen. Aber es ist unendlich schwer, des Menschen Natur zu verändern.«
Unterwegs nach ganz oben schlägt das Wetter um, Nebelschwaden verdecken die Sonne. Das hindert die Pilger nicht, den Göttern rote Glücksbänder, Geld und Räucherwerk zu opfern. Dann verschwimmt die Welt um uns herum. Das Kloster für die Prinzessin der Regendämmerung ist gerade noch schemenhaft zu erkennen, der Tempel des Jadekaisers auf der Bergspitze lässt sich fast nur noch erahnen. Schattenrisse über zerklüfteten Abhängen: eine Tuschzeichnung der Natur. Im Kloster Bixia Si haben die Mönche ein Erbarmen: Sie laden mich ein zum Tee. Einer der etwa zwei Dutzend heiligen Männer erklärt sich schließlich auch bereit, etwas über seine Religion zu erzählen. Und über die daoistische Glaubensgemeinschaft. »Wir sind Brüder im Geiste, wir führen ein bescheidenes, den Göttern gefälliges Leben«, sagt der freundliche alte Mann, der die weißen Haare zu einem Knoten hochgesteckt hat. »Ich mache nachher noch meine Tai chi-Übungen.« Der Tai Shan, erzählt er, sei nicht nur der Urvater aller
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