Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
chinesischen Berge, sondern selbst ein Gott. Dem daoistischen Großen Herrscher des Ostgipfels fällt nach den Worten des Mönchs die traditionelle Aufgabe zu, den Tag der Geburt und den des Todes eines Menschen festzulegen. Seine göttliche Tochter Sheng Mu wird als Patronin der Frauen und Töchter verehrt. Und die populärsten Heiligen überhaupt, die »Acht Unsterblichen«, haben einst im Kampf gegen den bösen Drachen den Tai Shan hochgehoben wie einen Stein, ihn zur Waffe gemacht und gegen den Kopf des Ungeheuers geschleudert. Der Dämon wurde zermalmt, die Kraft der Unterwelt besiegt.
Und jenseits dieser Legenden, worin liegt der Kern des Daoismus? Da zögert der Mönch keine Sekunde. »Der Mensch soll sich wie ein Baum, wie ein Tier oder eine Wolke als einfacher Teil der Natur sehen. Wir gehen von der natürlichen Gleichwertigkeit und Einheit aller Dinge aus, und dazu gehören auch die Menschen. Aber der Kosmos ist einem permanenten Wandel unterworfen, alles sucht sich seinen Weg. Wir sollten dabei möglichst nicht eingreifen, nichts erzwingen, sondern die Natur schätzen, sie beobachten und von ihrer Spontaneität lernen. Es ist nicht die Willenskraft oder der Ehrgeiz, der weiterhilft, sondern die Gelassenheit, die Anpassung an den Lauf der Welt.« Dann fügt er hinzu, ich solle ihn jetzt bloß nicht fragen, ob seine Lehre einen Religionsstifter oder ein heiliges Buch habe – »da wird es schwierig, das liegt alles im Dunkel der Geschichte«. Gute Reise nach unten wünscht er mir anschließend. Es sei möglicherweise spirituell erbaulich, wieder die über 6000 Treppen zu nehmen. Er bevorzuge allerdings die neu gebaute Seilbahn, die einem mindestens zwei Drittel der mühsamen Wanderung erspare, sagt der Mönch lächelnd. Ein Blick aus der Gondel sei ihm wichtiger: ideal für die Beobachtung der Natur.
Laozi (deutsch auch Laotse) gilt weithin als Begründer des Daoismus, er soll im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben – doch anders als Konfuzius ist er keine historische Gestalt. Die Experten sind sich heute weitgehend einig, dass dieser »Meister Lao« genauso eine Erfindung ist wie die schöne, vielzitierte Geschichte, ein Zöllner hätte ihn gezwungen, seine Gedanken zu Papier zu bringen, andernfalls dürfe er nicht weiterreisen. Und das Daodejing (deutsch oft auch Tao Te King ), in dem die Grundlagen der Glaubensphilosophie aufgezeichnet sind, hätte streng genommen von niemandem aufgeschrieben werden dürfen, mitsamt seiner Formulierung vom »Weg« ( dao ).
»Der Zentralbegriff ist nur eine Verlegenheitslösung, um das Weltprinzip zu bezeichnen, das eigentlich unbenennbar ist«, schreibt Kai Vogelsang. »Jede Bezeichnung wird nur durch die Unterscheidung von einer anderen sinnvoll – da das Dao aber allumfassend ist, ist es von nichts zu unterscheiden. Es ist durch Sprache nicht fassbar.« Wichtiger noch dürften die Überlegungen zum »richtigen Weg« sein: Da wird nichts weniger vorgeschlagen als die Rückentwicklung der Gesellschaft, zu einer Dorfgemeinschaft, die sich selbst genügt, die keine soziale Mobilität, keine Regeln für den Umgang mit Fremden, keine Kontrollmechanismen für die Mächtigen braucht. Wörtlich genommen, war die daoistische Ursprungslehre also fast eine Art Gegenentwurf zum Konfuzianismus. Nur nahmen sie viele nicht so buchstabengenau, dazu war das Gedankengebäude dann doch zu komplex, zu anspruchsvoll, zu elitär. Sondern krempelten sie um zum Volksglauben mit Naturgöttern und beruhigenden Ritualen.
Dabei hat sich das wichtigste Nachfolgewerk zum Daodejing noch deutlicher vom schnöden Alltag distanziert. Zhuang Zhou, ein real existierender Philosoph, der vermutlich im 4. Jahrhundert vor Christus gelebt hat, schlägt in seiner Geschichtensammlung Zhuangzi vor, die Herrscher zu ignorieren. Man solle gegenüber allen Heilslehren skeptisch sein. Was die Welt im Innersten zusammenhalte, sei die Lehre vom Yin, der weiblichen, kalten und schwachen Kraft im Gegenspiel zum Yang, der männlichen, warmen und starken Kraft. Im Alltag vermischten sich die komplexen Gedanken bald mit buddhistischen Vorstellungen. Als die Lehren des Gautama Buddha im 2. Jahrhundert ins Reich der Mitte vordrangen, wurden sie dort zunächst als verzerrte Variante des Daoismus wahrgenommen, weil die ersten Übersetzer des Konzepts daoistische Begriffe verwendeten. Laozi, so glaubten viele, müsse nach Indien gewandert sein und habe die Menschen dort von seinen Gedanken überzeugt. Was davon abwich,
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