Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Rechts.
In Qufu lässt sich auch an kleinen, an unscheinbaren Dingen beobachten, wie leicht die Lehre des Meister Kong für Gewinnmaximierung und das Fortschreiten eines autoritären Regimes missbraucht werden kann. Überall im Ort werden an Verkaufsständen Schnäpse »nach Originalrezepten der Familie« angeboten, fast alle Gäste greifen zu, wohl auch, weil sie überzeugt davon sind, dass sie damit den lange Zeit verfolgten Konfuzius-Urenkeln etwas Gutes antun. Aber wo Kong draufsteht, muss nicht Kong drin sein. Der hochprozentige »Confucius Family Spirit« wirbt zwar ausdrücklich mit den Namen der Nachfahren, aber die Firma befindet sich im Staatsbesitz. Die Partei kontrolliert und kassiert, sogar beim angeblich Selbstgebrannten. Und das ist wohl kaum im Sinn des Weisen, der einst gesagt hat: »Reichtum und Ansehen, das wünschen sich die Menschen. Kann man jedoch nicht auf anständige Weise dazu gelangen, dann sollte man sich weder um das eine noch um das andere bemühen.«
Was ist denn nun der Konfuzianismus – eine Philosophie, eine Morallehre, eine Religion? Mein Freund Tilman Spengler, Sinologe, Politikwissenschaftler und Romanautor, hat es vielleicht am besten formuliert: »Man muss dem abendländischen Begriff Religion ein ziemlich weites Gewand schneidern, um auch den Konfuzianismus darin unterbringen zu können. Er kennt keine Offenbarungsgeschichte, keine Gebete und er duldet andere Götter. Dass wir uns überhaupt daran gewöhnt haben, beim Konfuzianismus von einer Religion zu sprechen, verdanken wir den Jesuitenmissionaren des 17. Jahrhunderts, die nicht nur den Namen erfanden, sondern auch ein theologisches Konstrukt, das ihnen erlaubte, die Chinesen nicht zu Heiden zu erklären. Ein Volk, das auf einer so hohen Zivilisationsstufe stand, argumentierten die Patres, könne ja nicht einfach keine Religion haben. Man war sogar bereit, Konfuzius als einen frühen Propheten und Ahnenbilder auf kirchlichen Altären zu akzeptieren. Der Bekehrung der Chinesen zu Christen half das nicht.« Tatsächlich war die Missionierung von Katholiken und Protestanten im Reich der Mitte weitgehend ein Misserfolg. Der Glauben an einen persönlichen Schöpfer bleibt im Fernen Osten ein fremdes Konzept, die Vorstellung einer »Verwandtschafts-Schöpfungsgeschichte« liegt den Han-Chinesen näher: Sie glauben an Stammesbeziehungen und gemeinsame Entdeckungen innerhalb ihres Clans bis zurück in die Urzeit. »Ich habe jetzt die ganze Bibel gelesen«, sagte im 16. Jahrhundert ein Chinese dem verzweifelten Jesuitenpater und Missionar Matteo Ricci, »aber nirgendwo kommt Gottes Familienname vor.«
Offiziell gibt es 19 Millionen Christen in China, das entspricht einem Anteil von etwa 1,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung; andere sprechen von 70 Millionen Gläubigen, das wären dann fast so viele, wie die KP Mitglieder hat, aber eben landesweit auch keine 4 Prozent. Die Katholiken sind gespalten. Es gibt eine Untergrundkirche und eine quasi-offizielle Kirche, deren Bischöfe überwiegend vom Vatikan anerkannt werden. Meist toleriert die KP die christlichen religiösen Vereinigungen, einige Gemeinden, deren Vertreter sich staatskritisch äußern, werden schikaniert. Manche Priester sitzen seit Jahren im Gefängnis. Da es zwischen der Volksrepublik und dem Vatikan immer noch keine diplomatischen Beziehungen gibt, fühlt sich Peking nicht einmal verpflichtet, über diese Schicksale Auskunft zu geben. Aufmüpfige Christen mögen den Herrschern unbequem sein, ein großes machtpolitisches Problem stellen sie nicht dar, auch wenn es immer wieder vereinzelte kleinere Gruppierungen gibt, die der Partei aus dem Untergrund den Kampf ansagen – so wie die Mitglieder der Sekte »Allmächtiger Gott« in Henan, die in ihren Flugblättern ketzerisch vom »untergehenden chinesischen Großreich« sprechen. Ganz anders verhält es sich mit einer anderen quasi-religiösen Bewegung, die aus der Mitte des Landes kommt: der Falun Gong.
Die Sekte ist spätestens seit ihrem spektakulären Auftritt auf dem Tiananmen 1999 zum Alptraum der Partei geworden. Damals versammelten sich im Angesicht des riesigen Mao-Porträts Tausende zu einer Demonstration auf dem bestbewachten und prestigereichsten Platz des Landes zu einer Demonstration – die Autoritäten hatten zunächst keine Ahnung, wer sie waren, woher sie kamen, was sie wollten. Alles ging blitzschnell, wie von Geisterhand gelenkt waren die Protestierenden innerhalb von Sekunden aus allen
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