Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Richtungen aufgetaucht und standen dann in geschlossener Formation. Die meisten trugen das charakteristische Emblem der Bewegung: gelbe Umhänge mit einem roten Kreis in der Mitte, den fast ganz ein goldenes Swastika ausfüllt. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Sondereinheiten der Polizei die Protestierenden wegtragen, die Versammlung zerstreuen konnten. Da hatten sie längst schon ihre Flugblätter verteilt – eine Demütigung der Mächtigen ersten Grades. Seit damals ist Falun Gong streng verboten. Wer sich zu dem Kult bekennt oder gar für ihn wirbt, wandert ins Gefängnis. Die chinesische Staatsführung begründet die Verfolgung damit, dass die »Sekte« einen kriminellen Einfluss auf das gesamte Gemeinwesen ausübe, die Menschen manipuliere und sogar in den Selbstmord treibe.
Die Falun-Gong-Anhänger sehen ihre Bewegung selbst eher als Heilslehre denn als eine religiöse Bewegung. Ihr Gründer Li Hongzhi, auf dessen 1995 veröffentlichtes Buch Zhuan Falun das Gedankengebäude basiert, sieht sich in der großen Tradition chinesischer Heilmethoden. Er kombiniert die Meditation mit Qigong-Atemtechniken und einer moralischen Philosophie. Dabei werden Elemente des Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus übernommen und zu konkreten Lektionen der Körperbeherrschung geformt. Sie sollen täglich wiederholt werden, im Stehen (etwa bei der Übung »Gebotsrad-Himmelskreis«, die Körperenergie zum Zirkulieren bringt) oder im Lotussitz (»Verstärkung göttlicher Fähigkeiten« mit meditativen Armbewegungen). »Meister Li«, wie ihn seine Anhänger nennen, hatte die Eingebungen zu diesem »Weg der Vollendung« nach einer bis ins mittlere Alter eher glanzlosen Karriere als Trompeter in einer Polizeikapelle und als Büroangestellter der Stadt Changchun. Ob es wirklich eine höhere Berufung war oder nur ein cleveres Geschäftsschema, an dieser Frage schieden sich bald die Geister. Li Hongzhi jedenfalls machte eine atemberaubende Karriere. Sein Buch und seine Lehre verbreiteten sich rasend schnell, wohl auch wegen der Versprechungen, die seinem Werk zugrunde liegen: Wer die Übungen konsequent anwendet, kann sich Hoffnungen darauf machen, übermenschliche Fähigkeiten zu erlangen. Etwa die Kraft, in die Zukunft zu sehen. Hohe Spenden an die Organisation helfen auf diesem heiligen Pfad – sie müssen nur »freiwillig« sein.
Den Kultgründer machte seine Lehre jedenfalls reich und berühmt, er zog in die USA . Die amerikanische Regierung lehnte ein Auslieferungsbegehren der chinesischen Regierung ab; dafür gäbe es keine Handhabe. Li Hongzhi, nun schon über sechzig Jahre alt, sorgt inzwischen auch im Westen bei Vortragsreisen für Furore. Seine neue Heimatstadt Houston machte ihn – wohl auch wegen großzügiger Zuwendungen an die Stadt – zum Ehrenbürger. Doch das Zentrum seiner Bewegung ist nach wie vor in der Volksrepublik, wo er nach Schätzungen an die hundert Millionen Anhänger haben soll. Den Kampf gegen Sittenverfall und zur »Harmonie« früherer Zeiten, den der Ex-Trompeter mit seiner Lehre propagiert, hat sich die KP auf die Fahnen geschrieben: Sie möchte ihn kanalisieren und kontrollieren. Eine alternative Bewegung, ein heimlicher Führer jenseits der etablierten Strukturen scheint den Herrschenden gefährlich – und so bekämpfen sie Falun Gong bis aufs Blut. Die Bewegung behauptet in ihrer Dokumentation »Blutige Ernte«, mehr als 500000 ihrer Leute seien schon in Arbeitslager deportiert worden, 41500 seien bei lebendigem Leib Organe entnommen worden, 3638 Todesfälle durch Folter könnten »nachgewiesen werden«. Auch wenn die Zahlen maßlos übertrieben sein dürften: Es ist für die Partei trotz all ihrer Verfügungsmittel über den Machtapparat offensichtlich äußerst schwierig, Falun Gong in den Griff zu bekommen.
Die Sekte ist für viele nur eine Ausprägung des Sanjiao , der »Drei Lehren«, die China maßgeblich geprägt haben und oft ineinander übergehen: Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus. »Bist du Konfuzianer, bist du Daoist oder bist du Buddhist?«, habe ich die Gläubigen auf dem weiten chinesischen Land öfter gefragt, als sie Räucherstäbchen anzündeten oder zu irgendeinem Tempel pilgerten. Die meisten schauten mich dann verständnislos an, manche sagten: »Aber das lässt sich doch so scharf nicht auseinanderhalten.« Andere gingen noch weiter: »Ist doch alles dasselbe.« Und wenn ich dann zu einer der religiös inspirierten Festlichkeiten eingeladen wurde, hatte ich den
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