Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
gelber Seide umwickelte Elfenbeinkugeln in die traditionelle Goldurne fallen. Drei handverlesene Kandidaten standen zur Wahl, ihre Namen waren unter dem Stoff verborgen. Nachdem sich ein Staatsratsmitglied von der Korrektheit des Ablaufs überzeugt hatte, durfte ein ausgesuchter Mönch die Ziehung vornehmen. Das Staatsfernsehen übertrug. Der Gewinner hieß Gyeltshen Norbu. Er stammt aus demselben Distrikt wie sein vom Dalai Lama akzeptierter Konkurrent, hat aber keinen religiösen Background, sondern einen politischen: Er ist das Kind zweier zuverlässiger Parteimitglieder.
Seit 2008 ist eine von der Staatsbehörde für Religiöse Angelegenheiten erlassene »Verordnung Nummer fünf« in Kraft, die präzise Anweisungen für das »Management der Reinkarnation lebender Buddhas« gibt – mit anderen Worten, die KP will die Wiedergeburt des 14. Dalai Lama bestimmen. »Das ist in etwa so, als wolle Fidel Castro den neuen Papst ernennen«, sagte mir Exilpremier Sangay Lobsang. »Einerseits verfolgt Chinas KP jeden, der in ihrem Machtbereich auch nur ein Dalai-Lama-Foto aufstellt, andererseits ist sie extrem um die Kontinuität unserer Religion besorgt – ich würde meinen, die Kommunisten haben in Sachen Wiedergeburt ein Glaubwürdigkeitsproblem.«
In Dharamsala, dem Hippie- und Hollywood-Treffpunkt, wo man in unscheinbaren Cafés wie dem Shambala schon mal Dalai-Lama-Fans wie Richard Gere oder Uma Thurman begegnen kann, wägt der pensionierte Gottkönig seine Optionen. Ein ganz gewöhnlicher Tag im Vor-Himalaja, ein bescheidener Bungalow mit Blick auf den Garten, dessen Rosen er selbst sorgfältig pflegt. Der 14. Dalai Lama alias Mönch Tenzin Gyatso ist wie immer um halb vier Uhr morgens aufgestanden, hat seine Kunststoff-Flipflops übergestreift und in den alten buddhistischen, auf Palmenblättern überlieferten Schriften gelesen. »Solange Raum und Zeit bestehen, solange fühlende Wesen leben, solange möge auch ich verweilen, um das Leid der Welt zu vertreiben«, heißt eines der Gebete. Dann stärkte er schweißtreibend seine Fitness auf einem Laufband, das ein Trainingscomputer kontrolliert, dabei hörte er über seinen Weltempfänger die Nachrichten der BBC . Danach Frühstück, konsequent kosmopolitisch – tibetischen Gerstenbrei, gemischt mit amerikanisch verpacktem Haselnussmüsli, dazu frische Milch von Kühen der Region. Um sechs Uhr Zeitungslektüre, darunter der Guardian und Indian Express , Tagung mit dem Beraterstab ab acht Uhr, gefolgt von einem Routineprogramm: Vorbereitung von Auslandsreisen, Audienz mit Pilgergruppen aus aller Welt im Garten.
Der 14. Dalai Lama wird auch in Zukunft reisen, wohl auch weiter ausländische politische Führer treffen, wenngleich nicht mehr so häufig und nicht in der offiziellen Kapazität als »Staatsoberhaupt«. Er will kürzertreten, sich häufiger zum Meditieren zurückziehen. Um das, was so gegensätzlich erscheint, zu vereinen – seine Harvard-gestützten Untersuchungen zu wissenschaftlichen Zusammenhängen zwischen Religion und Hirnforschung einerseits und seinen obskur anmutenden Glauben an ein lebendes Staatsorakel, das unter Trance Weisheiten ausspricht, andererseits. »Ich weiß, das mit dem Orakel klingt für sie befremdlich«, hat er mir gesagt. »Aber haben Sie schon einmal versucht, die Geschichte von der jungfräulichen Geburt und der Heiligen Dreifaltigkeit einem tibetischen Buddhisten klarzumachen?«
Vor allem arbeitet der Dalai Lama daran, sein Haus zu bestellen, sein Vermächtnis zu ordnen. Er geht dabei sehr methodisch vor, hat die klassischen Schriften gewälzt. Im Fall einer Notsituation für sein Volk, heißt es darin, stehe ihm das Recht des madey tulku zu. Das heißt: Er kann zu seinen eigenen Lebzeiten einen »Wiedergeborenen« als spirituellen Nachfolger bestimmen. Die andere Variante wäre, die Institution des Dalai Lama mit ihm, dem Vierzehnten, enden zu lassen. Das Einzige, was er sicher weiß: Bei dieser Entscheidung wird er sich nicht von den Politikern in Peking reinreden lassen. »Die KP soll sich um die Wiedergeburt Maos oder Dengs kümmern. Dass sich die Spitzenkader um meine Reinkarnation sorgen, rührt mich, ich bete ja im Gegenzug auch für sie. Aber es ist nicht logisch. Will man denn einen Dämon, wie sie mich nennen, auf ewig haben? Nein, Peking hält sich da besser heraus, das ist meine Sache und die meines Volkes. Solange ich im Exil bin, werde ich im Exil meinen Nachfolger suchen. Oder meine Nachfolgerin.«
Wie nervös
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