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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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er wisse, entscheidende politische Fortschritte seien ihm und seinem Weg nicht vergönnt gewesen. »Sie schicken immer mehr Han-Chinesen nach Tibet, eine Einwanderungswelle nach der anderen, sie reduzieren unsere Religion zur Folklore und machen unsere Tempel zu Jahrmarkt-Attraktionen.«
    Hat die KP wirklich so unrecht, wenn sie darauf hinweist, dass Tibet jahrhundertelang unter einem feudalistischen Lamaismus litt, dass der Lebensstandard der tibetischen Bevölkerung Chinas gerade in den letzten drei Jahrzehnten stark gestiegen ist? Der 14. Dalai Lama war schon immer dagegen, wenn westliche Tibet-Fans sein Land zum Shangrila hochstilisiert haben, zum Reich des Reinen und Guten, zur Projektionsfläche ihrer Träume. Er weiß sehr wohl, dass viele seiner Vorgänger das Volk jahrhundertelang geknebelt haben, dass sich die Äbte der wichtigsten Klöster in sehr weltliche und blutige Machtkämpfe verstrickten, dass es noch weit bis ins 20. Jahrhundert so unmenschliche Strafen wie das Ausstechen von Augen gab. Erst sein Vorgänger, der 13. Dalai Lama, begann ernsthaft mit Reformen; er selbst trieb sie dann in den Fünfzigerjahren voran. Seinem Verhandlungspartner Mao ging es nicht so sehr darum, das damals weitgehend unabhängige Tibet sozial besserzustellen: Er wollte es endgültig und zur Not eben auch mit Waffengewalt seinem Reich einverleiben – der Große Vorsitzende suchte aus Bequemlichkeit und taktischen Gründen dafür die Zustimmung des jungen Religionsführers. Als er sie nicht erhielt und sich mit einem Volksaufstand konfrontiert sah, griff Mao rücksichtslos durch.
    Auch für die heutigen Herren der Volksrepublik ist dieses Tibet in vielerlei Hinsicht eine Schlüsselregion, nicht umsonst heißt ihr chinesischer Name Xizang, das »Westliche Schatzhaus«. Hier liegen riesige Bodenschätze, teilweise erst kürzlich entdeckte Reserven an Eisen, Bauxit, Uran, Gold und Erdöl. Obwohl seit 1959 fast die Hälfte der Wälder abgerodet wurde und einige Flüsse durch die rücksichtslose Industrieverschmutzung bedroht sind, könnte das Hochland für den Rest der Volksrepublik zudem zu einer entscheidenden Wasser- und Energiequelle werden.
    Käme der Dalai Lama nach Lhasa zurück, er würde das Wahrzeichen, seinen Potala-Palast, noch über der Stadt thronen sehen, aber sonst nicht mehr viel wiedererkennen. »Geheiligte Erde« bedeutet der Name der Hauptstadt, und 1959, als der 14. Dalai Lama von hier floh, hatte sie nach seiner Schätzung »etwa 30000 Einwohner, davon zehn Ausländer«. Als ich Lhasa Anfang der Achtzigerjahre zum ersten Mal besuchte, lebten dort etwa 150000 Menschen, noch fast zwei Drittel davon Tibeter. Die Menschen waren hoffnungsfroh, sie hatten die Kulturrevolution mit den hier besonders schlimmen Zerstörungen heil überstanden, sie begannen, ihre Tempel zu reparieren, Mönche zogen wieder in die berühmten Klöster Drepung und Sera ein. Zwar war es verboten, den Dalai Lama zu erwähnen oder gar zu preisen, aber als ich auf dem Markt einige Fotos von ihm verteilte, sammelte sich sofort eine begeisterte Menschenmenge.
    Heute zählt Lhasa eine halbe Million Einwohner, davon sind 70 Prozent Han-Chinesen. Überall bestimmen Uniformierte das Straßenbild, Polizeikontrollen auf Schritt und Tritt. 17 Stockwerke reicht das Foreign Trade and Economic Cooperation Building in den Himmel, ein blaues Ungetüm aus Stahl und Glas. 13 Stockwerke hat das imposante neue Polizeihauptquartier. An jeder Ecke wird gehämmert, geklopft, geschweißt. Baukräne wachen über halbfertigen Appartementblocks, an Schnellrestaurants einer Pekinger Kette werden die Reklameschilder hochgezogen, für die Volksbefreiungsarmee entstehen moderne Kasernen. Karaoke-Clubs und als Friseursalons getarnte Bordelle am Stadtrand werben mit grellen Neonreklamen um Kunden. Es sind Etablissements von Chinesen für Chinesen. Die Partei hat auch einige sehr eigenwillige Verschönerungsaktionen durchgesetzt: Entlang mancher Straßen stehen jetzt pilzförmige rote Abfallkörbe mit weißen Punkten. Manche sind so verkabelt, dass sie auf Berührung reagieren und Kanton-Popsongs spielen – welche Gnade, dass die Batterien nicht ewig halten. Und es gibt jetzt Palmen auf dem Dach der Welt. Sie sind grasgrün, leuchten aber nachts auch rosa und violett. Sie tragen alle exakt fünf Kokosnüsse, ihre Stämme sind abwaschbar, Plastikprodukte durch und durch. Und am Potala, dem klinisch restaurierten ehemaligen Dalai-Lama-Sitz, wacht ein neu platziertes

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