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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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stundenlangen Prozedur am 4700 Meter hohen Khunjerab-Pass, der anschließenden Sechsstunden-Busfahrt über Schlaglöcher-Schotterstraßen, war ich schon beim ersten Anblick so fasziniert, dass ich Kaschgar neben Qufu und Lhasa sozusagen über Nacht zu meiner Lieblingsstadt auf dem Gebiet der Volksrepublik ernannte. Wie eine chinesische Stadt kam mir Kaschgar damals allerdings nicht vor, eher wie ein orientalischer Ort aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht. So hatte es auch Marco Polo 1274 wahrgenommen, den das islamisch geprägte, aber auch nestorianischen Christen gegenüber tolerante »Cascar« auf seiner Weltreise zutiefst faszinierte. In seiner wechselvollen Historie hat die Oase viele Herren angelockt, die Tang-Dynastie etablierte sich hier im 7. Jahrhundert, lange Zeit war der Buddhismus vorherrschende Religion. Danach machten Araber Kaschgar zum Zentrum eines Kalifats, Sultane eroberten den Ort und etablierten den Islam endgültig als den dominanten Glauben. Später hissten Dschingis Khan und Tamerlan hier ihre Fahnen. Jeder Stein nahe der Taklamakan, der »Wüste ohne Wiederkehr«, schien seine eigene Geschichte zu haben – mindestens seit den Seidenstraßen-Zeiten, als hier Händler von der einen Richtung mit Gold, Edelsteinen und Glas und von der anderen mit kostbaren Stoffen und Porzellan unterwegs waren, darüber hinaus aber auch Gelehrte und Mönche, die Ideen, Wissen und ganze Kulturen von Osten nach Westen und Westen nach Osten brachten.
    Ich war in einem dunklen, alten Gästehaus von zweifelhafter Hygiene abgestiegen. Die Schlepper am Busbahnhof hatten leichtes Spiel gehabt und mich durch ein Labyrinth navigiert. Ich war müde und wollte mich nur irgendwo hinlegen, aber dann konnte ich doch nicht anders, als noch durch die spärlich erleuchteten Gassen zu wandern und über die verwinkelten Lehmhäuser mit ihren grün bemalten Pappelholztüren und den kupfernen Blumenornamenten zu staunen. Über die Plätze mit den alten Koranschulen, den Karawansereien, den Schmiedewerkstätten für Gold- und Silberschmuck. »Heute gibt es keine Besucher außer Ihnen«, sagte der Mann an der Rezeption nach meiner Rückkehr weit nach Mitternacht. Dann fügte er hinzu, als müsse er mich trösten: »Aber Sie hatten viele berühmte Vorgänger hier.« In den Räumen schliefen demnach schon die Abgesandten und Spione Russlands und Großbritanniens. Anfang des 20. Jahrhunderts konkurrierten sie beim Great Game , dem großen weltpolitischen Spiel um Zentralasien, belauerten und belauschten sich. Die damaligen Supermächte unterhielten in der Stadt sogar Konsulate. Und noch 1934 gab es um Kaschgar eine blutige Schlacht, bei der die Kämpfer für einen unabhängigen Staat zu Tausenden dahingemetzelt wurden. Die Bewegung erholte sich so weit, dass es 1944 zu einer Republik Ostturkestan kam. Erst nach Maos Triumph 1949 konsolidierten die Han hier ihre Macht.
    Nach einer unruhigen Nacht in dem schäbigen Zimmer weckte mich ohrenbetäubender Lärm: Der Markt am Sonntag begann frühmorgens, sehr frühmorgens. »Posch, posch, posch«, riefen die Pferdebesitzer und trieben ihre Tiere zum Verkaufsplatz hinunter an den Fluss. Männer mit schwarzen Bärten, mächtige Pelzmützen auf dem Kopf und den Krummdolch am Gürtel ließen sich von den »Platz da«-Rufen wenig beeindrucken und steuerten klapprige, mit Teppichen beladene Esel durch das Chaos. Schlanke Frauen, manche verschleiert, balancierten Kupfergeschirr. Und ab und zu schaukelte eine Kamelkarawane durch das Chaos, beladen mit ihren Schätzen: Säcken mit Datteln, Aprikosen und Rosinen, Körbe mit Pelzen und Poschtienen, den weiten Mänteln Zentralasiens. Ein atemberaubendes Duftgemisch: Hammel-Kebab, Weihrauch, Kameldung.
    Aber plötzlich stoppten die zupackenden Umgarnungen, endete das hartnäckige Feilschen: Der Muezzin rief. Und alle warfen sich zum Gebet Richtung Mekka. Und alle gingen, als sich der Markt dann nachmittags auflöste, zur Id-Kah-Moschee, dem größten islamischen Gotteshaus in der Volksrepublik China, unweit der Mao-Statue gelegen, mit ihren 18 Metern auch eine der eindrucksvollsten im Land. Ich fragte später den Imam, wie denn die politische Situation in Kaschgar sei. »Ruhig, wir helfen den Staatsorganen immer dabei, Konflikte einzudämmen«, antwortete der Mann, dessen Aufstieg in sein Amt von der Parteiführung in Peking abgesegnet worden war. Und in der Tat wollten wohl die allermeisten Gläubigen keine Konflikte, sondern nur ungestört ihrem

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