Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
die chinesische Regierung gerade heute in Sachen Dalai Lama ist, erfuhr ich bei meiner jüngsten Chinareise vor wenigen Monaten: Ich habe das Geburtshaus des verfemten Friedensnobelpreisträgers besucht – ein von den Behörden streng verbotener Trip. Das Anwesen liegt in Qinghai, jener Provinz auf dem nordöstlichen Himalaja-Hochplateau, die an die Autonome Region Tibet grenzt und von den Tibetern als Teil ihres Stammlands betrachtet wird. Flächenmäßig ist Qinghai größer als jedes westeuropäische Land, Einwohner hat es kaum ein Drittel so viele wie Schanghai. Touristen verirren sich selten in diese wildzerklüftete Region, deren Verkehrswege wenig erschlossen sind. Die Hauptstadt Xining immerhin ist ein Eisenbahnknotenpunkt. Die höchste Zugstrecke der Welt, die Peking seit 2006 mit Lhasa verbindet und sich auf 5100 Meter hinaufwindet, hat hier eine wichtige Zwischenstation. Von Xining liegt das Dalai-Lama-Dorf Taktser nur etwa achtzig Kilometer Luftlinie entfernt – und ist doch fast unerreichbar. Erst nachdem er von einem meiner Freunde überredet wurde, hatte sich ein tibetischer Taxifahrer bereiterklärt, mich dorthin zu fahren.
Gleich außerhalb von Xining, nach einer Abbiegung auf eine Landstraße, bat er mich, die Mütze tief ins Gesicht zu ziehen, in den Bäumen seien Kameras aufgestellt, die jedes Fahrzeug und seine Insassen registrierten. Als wir die Kleinstadt Ping’an hinter uns ließen, wurde er immer nervöser, und bald war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, den Ausflug zu versuchen. Aber wir fuhren dann doch ungestört einen Pfad nach dem anderen hinauf und wieder hinunter durch das weite Grasland. Wir passierten nur wenige Dörfer und Höfe, und bald – so etwa nach dem siebten Hügel – wurde es ganz einsam. Vor einer Kurve noch eine Polizeistation, die aber Gott sei Dank verwaist aussah. Wir hatten zwölf Uhr Mittag für unseren Besuch gewählt, die beste Chance, dass jeder mit Essen beschäftigt war.
Das Dorf Taktser klebt an einem der kegelartigen Berge, hübsch, aber alles andere als spektakulär. Knapp 300 Einwohner soll der Ort haben. In seiner Mitte steht ein Gehöft, Nummer 055, eines der größten des Dorfes: der Besitz des Familienclans, das Geburtshaus des Dalai Lama.
»Nicht aussteigen!«, rät der Fahrer. Aber alles hier wirkt wie ausgestorben. Von der Seite kann man auf eine Mauer klettern und in den Innenhof des rotgetünchten Hauses mit seinem typisch tibetischen Dach einsehen. Einige Kathas, weiß-blaue zeremonielle Fähnchen, flattern dort im Wind. Die Fenster sind verdunkelt. Hier also hatte der Friedensnobelpreisträger früher gespielt, hier hatte er als Dreijähriger, wenn man den Erzählungen der Äbte glauben durfte, die heiligen Gegenstände, die ihm präsentiert wurden, auf so verblüffende Weise identifiziert, war als Gottkönig »erkannt« worden. Im Jahr 1955 durfte der Dalai Lama sein Geburtshaus einmal wiedersehen, hatte er erzählt. Auf dem Weg zu einem Treffen mit Mao – schwer zu begreifen, dass von diesem unscheinbaren Bauernhaus in diesem Kaff am Ende der Welt so große Ereignisse ausgelöst wurden.
»Jetzt aber weg hier«, ruft mein Fahrer aufgeregt, er glaubt, am Horizont ein Polizeiauto entdeckt zu haben. In halsbrecherischer Fahrt rasen wir auf einer Nebenroute von der Nebenroute zurück in die Provinzhauptstadt. Vor dem Hotel stehen Polizisten. Aber ihre Aufmerksamkeit gilt nicht mir, sondern einem betrunkenen Mann in Lumpen, der randalierend um sich schlägt. Sonst keine weiteren Vorkommnisse.
Mein tibetischer Freund hat vor einigen Jahren Gelegenheit gehabt, sich das Haus von innen anzusehen. Er berichtet von einem Wohnzimmer mit einfachen Holzmöbeln und Betten, an der Wand seien einige Familienfotos aufgehängt gewesen. In einem Nebenraum, wo der Dalai Lama das Licht der Welt (wieder-)erblickt haben soll, sei das Bett geschmückt gewesen. Ob die Behörden diesen Schmuck entfernt haben, lässt sich nicht sagen. Seit etwa 2006 ist das Geburtshaus des Dalai Lama verbotenes Terrain, und besonders streng sind die Behörden seit 2008, als es in Tibet zu blutigen Unruhen kam. Sie wollen jede Form der Verehrung für den tibetischen Führer verhindern. Sie haben Angst vor neuen Formen des Widerstands gegen die Staatsgewalt.
In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Hungerstreiks junger Exiltibeter in Indien gegeben, die so auf die ausweglose Lage ihrer Landsleute aufmerksam machen wollten. Der Dalai Lama hat
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