Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
in großen Stadien vor Gläubigen wie im kleinen Kreis mit den wichtigsten Politikern der Welt (von denen ihn einige offiziell empfangen und sich damit den Zorn der Regierung in Peking zuziehen, andere eher vorsichtig, bei privat gehaltenen Treffen). Er wird für die ganz großen Fragen zuständig gemacht, ob er das will oder nicht, für den Frieden, für die Menschenrechte, für den Sinn des Lebens. Er dient als eine Art spirituelles Trostpflaster für die in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer zersplitterte Welt. Gelegentlich käme er sich wirklich wie der kleinste gemeinsame Nenner vor, auf den der Westen und der Osten, die Ohnmächtigen und die Übermächtigen sich einigen könnten, hat er mir in einem Anflug von Resignation einmal anvertraut. Aber dann hat er sich gleich wieder gefangen. Das alles störe ihn nicht, solange er nur sein Ziel nicht aus den Augen verliere. Solange er Werbung machen könne »für das, was mir wirklich am Herzen liegt: das Wohlergehen, der Fortschritt, die Freiheit meines Volkes«.
Und genau da beginnt für die chinesische Regierung in Peking das Problem: Die Männer im Zentralkomitee dulden keine fremden Götter neben sich. Dabei spielt es kaum eine Rolle, welche Kompromisse der 14. Dalai Lama im Exil macht – vor vielen Jahren schon hat er darauf verzichtet, für Tibet einen eigenständigen Staat zu fordern, er akzeptiert die politische Oberhoheit der KP in Lhasa und beansprucht lediglich eine »substanzielle« Autonomie für sein Land und seine Kultur. Im Fall seiner Rückkehr nach Lhasa will er ganz zurückgezogen leben. Aber die Partei weiß, wie tief der Dalai Lama in seinem Volk verankert ist. Einmal in den Neunzigerjahren hat sie einigen seiner Verwandten eine Erkundungsreise nach Tibet erlaubt. Die Menschen stürmten die Absperrungen, lagen den Abgesandten zu Füßen, riefen inbrünstig nach der Heimkehr ihres Gottkönigs. Die Partei weiß auch, dass der Dalai Lama – in welcher Form auch immer – die oberste Autorität bleiben wird. Nicht nur der Tibeter im Exil, nicht nur der Tibeter in der künstlich geschaffenen »Autonomen Region«, sondern aller Tibeter, auch in den anderen chinesischen Provinzen. Deshalb bekämpfen ihn die KP -Machthaber mit allen Mitteln. Und setzen vor allem auf Zeit, auf eine neue Ära nach dem 14. Dalai Lama. Noch aber wirkt der recht vital.
Was für ein Leben, was für ein Schicksal im Kreislauf der Wiedergeburten und der Dalai-Lama-Tradition: Nach dem Glauben seiner Anhänger ist er ursprünglich 1391 auf die Welt gekommen, nach unserem Verständnis im Jahr 1935. Tenzin Gyatso, Bauernsohn, war kaum drei Jahre alt, als ihn ein Suchtrupp der wichtigsten buddhistischen Äbte anhand alter Prophezeiungen und Riten als Dalai-Lama-Reinkarnation erkannte (oder auswählte, je nachdem wie religiös man ist) und nach Lhasa mitnahm. Mit fünf Jahren schon Resident im mächtigen Potala-Palast. Mit 15 zum politischen Führer gekürt. Mit 19 Verhandlungspartner von Mao, den er lange bewunderte, bis ihm bewusst wurde, dass der Große Vorsitzende ihn nur benutzen und sein Volk unterjochen wollte. Nach dem Volksaufstand 1959 mit 23 Jahren eine dramatische und vom amerikanischen Geheimdienst CIA mitorganisierte Flucht über eisige Himalaja-Gebirgspässe und durch reißende Flüsse nach Indien. 1989 der Friedensnobelpreis. Fünf Gesprächsrunden fanden zwischen seinen Vertretern und Abgesandten der Regierung in Peking seitdem statt – ohne jedes Ergebnis. Und immer mehr verschärften sich die Diskussionen innerhalb der tibetischen Exilgemeinde, ob denn dieser sanfte, vom Dalai Lama proklamierte »Mittlere Weg« auch der richtige sei – vor allem beim Tibetischen Jugendkongress waren zunehmend schärfere Töne zu hören. Auch bewaffnete Aktionen und Sabotageakte wurden schon diskutiert.
Bis heute kann sich der 14. Dalai Lama mit seinem Kurs durchsetzen, nie hat er die Idee eines bewaffneten Widerstands gutgeheißen, obwohl er in der maoistischen Frühzeit wohl von amerikanischen Waffenlieferungen an seinen im Untergrund kämpfenden Bruder wusste. »Mal abgesehen vom Moralischen, nur als Realitätscheck – wer sollte uns denn heute militärisch unterstützen oder gar an unserer Seite gegen die Volksrepublik China kämpfen, die Inder, die Europäer, die Amerikaner? Ein bewaffneter Aufstand würde uns in die Katastrophe führen«, sagte er mir in einem der Interviews. Aber er verstehe die Frustration der jungen Leute, setzte er hinzu. Und ja,
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