Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Löwenpaar, das klassische Symbol chinesischer Macht – vom tibetischen Schneelöwen keine Spur.
Seine Heiligkeit hat in unseren Gesprächen immer wieder behauptet, er glaube an seine Rückkehr. Auch jetzt noch, nach fast 55 Jahren im Exil. Im Sommer 2011 macht der tibetische König-ohne-Land dann einen letzten, geradezu sensationellen Versuch, Bewegung in die tibetische Sache zu bringen. Er verkündet das Ende der tibetischen Theokratie, seinen Rückzug von allen Ämtern, die ihn ja zum weltlichen wie spirituellen Führer seines Volkes machten. Aber ist so etwas überhaupt möglich? Kann man seine religiös-politische Macht einfach an der Garderobe ablegen wie einen alten Mantel, den man nicht mehr braucht? Wird Tibet so nicht zu einem Vatikan ohne Papst, seiner besonderen Identität beraubt – und spielt das nicht den Machthaber in Peking in die Hände?
»Meine Entscheidung hat nichts mit Resignation zu tun, auch nicht mit Gesundheitsgründen, sondern nur mit Einsicht«, sagt mir ein sehr nachdenklicher Dalai Lama. »Ich habe mir alle Regierungsformen genau angesehen – ein demokratisches Parlament mit einem gewählten Premier ist die einzig moderne, die einzig funktionierende. Dagegen die Monarchie: gestrig; die Theokratie: vorgestrig. Ich glaube an die Trennung von Kirche und Staat. Aber was bin ich denn für ein Scheinheiliger, wenn ich aus dieser Erkenntnis keine Konsequenzen ziehe!« Deshalb habe er »mit einem lustvollen Federstrich« seine säkularen Aufgaben aufgegeben, sein Recht, Minister zu entlassen, den Kurs der Verhandlungen mit der Volksrepublik zu bestimmen. »Die Regierung in Peking hat mich als Hindernis für alle Kompromisse bezeichnet. Jetzt gibt es diesen Stolperstein nicht mehr, sie muss Farbe bekennen. Ich möchte nur noch Tenzin Gyatso sein, ein einfacher Mönch.«
Und warum hat er sich von seiner Exilgemeinde nicht einmal dazu überreden lassen, als eine Art konstitutioneller Monarch zu wirken und die Exilregierung zu repräsentieren? Da tupft er sich die Schweißperlen von der Stirn, vorsichtig, um eine Fliege, die sich dort niedergelassen hat, nicht zu gefährden: »So wie die Queen? Bei allem Respekt, persönlich ist sie ja eine nette Dame, aber mäßige Texte, die ein anderer geschrieben hat, als Regierungserklärung vorzulesen, das ist nichts für mich«, sagt der »Ozean der Weisheit«. Bei der Volkswahl zum neuen Ministerpräsidenten in Dharamsala hat er sich dann strikt herausgehalten.
Es ist ganz offensichtlich, dass die KP die Exilregierung links liegen lassen will und sich für Tibets Zukunft einen eigenen Masterplan erstellt hat. Und da die Kommunisten erkannt haben, dass es ohne Gott in Tibet nicht geht, haben sie sich entschlossen, selbst Gott zu spielen. Eine verblüffende Entwicklung: Immer hat die KP den tibetischen Buddhismus mit »feudalistischen Praktiken« gleichgesetzt. Sie versucht nun schon seit einiger Zeit, selbst den Glauben zu instrumentalisieren und dabei Dharamsala auszuschalten.
Traditionell wirken Tibets Gottkönige beim Finden ihrer geistlichen Stellvertreter mit. Im Jahr 1995 bestimmte der Dalai Lama einen kleinen Jungen als Wiedergeburt des verstorbenen Panchen Lama (»Kostbarer Lehrer«), als neue Nummer zwei der Glaubenshierarchie. Der Abt des Klosters Shigatse im kommunistisch kontrollierten Tibet hatte ihm über Mittelsmänner heimlich Fotos verschiedener Kandidaten und deren religiösen Hintergrund geschickt. Führende Politiker der Volksrepublik reagierten empört – »das ist ein Giftpfeil ins Herz der Partei«. Sie ließen, nach allem, was man heute weiß, den damals sechsjährigen Gedhun Choekyi Nyima von Geheimpolizisten entführen und nach Peking bringen. Seitdem verweigern die Behörden jede Auskunft über seinen Verbleib, obwohl sich ausländische Delegationen, unter anderem des Europaparlaments, immer wieder nach einem Lebenszeichen erkundigt haben. Auch verschiedene Menschenrechtsgruppen verlangten Informationen, nannten Gedhun den »jüngsten politischen Gefangenen der Welt«. Es gehe ihm gut, heißt es zu seinem Schicksal in Peking, lapidar verweist die Partei darauf, die Eltern wollten dem Jungen »ein normales Leben« ermöglichen.
Aber die KP beließ es nicht bei dem Kidnapping: Sie suchte einen eigenen Panchen Lama aus. Um dem Prozess den Anschein religiöser Legitimität zu geben, griffen die Machthaber auf alte tibetische Rituale zurück. Bei einer von Partei-Oberen inszenierten Klosterzeremonie ließen sie verschiedene mit
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