Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
das stets verurteilt – auch Gewalt gegen den eigenen Körper ist seiner Meinung nach dem gläubigen Menschen nicht erlaubt. In den vergangenen Monaten aber hat – nicht im indischen Exilland, sondern auf dem Gebiet der Volksrepublik – ein anderer, noch viel besorgniserregender Protest um sich gegriffen: die Selbstverbrennung. Bis Mitte des Jahres 2013 waren es schon über 130 Mönche und Nonnen, die sich in tibetischen Regionen Chinas mit Benzin übergossen und anzündeten. Manche hielten kurz vor ihrem Ende noch Plakate hoch, in denen sie »Freiheit für Tibet« forderten, andere riefen »Nieder mit der Unterdrückung!« oder »Lasst den Dalai Lama zurück!«. Der Dalai Lama distanzierte sich in Dharamsala von solchen Praktiken, erklärte die Taten aber als Ausdruck der Verzweiflung seiner Landsleute und forderte eine offizielle Untersuchung sowie eine Diskussion über die Zukunft Tibets mit der KP -Führung. Die staatlich gelenkten Medien nannten ihn dennoch »Anstifter«. Von einer neuen Gesprächsrunde zwischen den Abgesandten der Exilregierung und den Regierenden ist derzeit keine Rede. Stattdessen verschärfte Peking den Kurs gegenüber allen Tibetern noch einmal. Die Äbte der Klöster müssen sich nun wieder schriftlich von der »Dalai-Clique« distanzieren, unter Aufsicht der Parteikader werden politische »Erziehungskurse« durchgeführt. Und um künftige Selbstmorde zu verhindern, hat ein Gericht in der Provinz Sichuan im Januar 2013 den Mönch Lorang Konchok wegen »Anstiftung zu Selbstverbrennungen« zum Tod verurteilt.
Wenn noch eine Religion der KP -Führung in Peking ähnlich große Sorgen macht wie der tibetische Buddhismus, dann ist es der Islam. Rein zahlenmäßig sind Chinas Muslime eine verschwindende Minderheit; knapp 20 Millionen oder etwa 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung bekennen sich zu diesem Glauben. Die Hui, die größte ethnische Einzelgruppierung unter ihnen, sind sogar weitgehend assimiliert; sie leben in vielen Provinzen des Riesenreichs verstreut, in Yunnan im Süden des Landes, in Sichuan und in Küstenregionen wie Shandong; auch in der Konfuzius-Geburtsstadt Qufu betet ihre Gemeinde in der Moschee. Seit vielen Jahren schon existierte eine staatliche »Chinesische Islamische Vereinigung« in Peking, die »den Koran verbreiten und Extremismus bekämpfen« soll. Muslim und Terrorist – für Parteifunktionäre gehört das inzwischen zusammen wie Dalai Lama und Separatist. Sie denken dabei an Chinas Wilden Westen, an die Autonome Region Xinjiang (das früher Sinkiang genannt wurde). Die Parallelen zu Tibet sind in der Tat schwer zu übersehen: Es ist ein riesiges Gebiet mit relativ wenigen Einwohnern, das am Rande des Riesenreichs liegt und militärisch-strategisch wie durch seine Bodenschätze für die Regierenden höchste Priorität einnimmt. In Xinjiang wie in Tibet sind die Menschen mehrheitlich sehr religiös, viele fühlen sich von den Han-Chinesen unterdrückt, manche hassen das dominante Mehrheitsvolk sogar. Sie beklagen, dass praktisch alle wichtigen politischen Funktionen ihrer jeweiligen Provinz von Han ausgefüllt werden, dass die Städte gezielt mit Zugereisten »überfremdet« werden, zum wirtschaftlichen Nachteil der Alteingesessenen. Sie fühlen sich als Staatsbürger zweiter Klasse – oder wollen, wie ein Großteil der Muslime in Xinjiang, gar nichts mit Peking zu tun haben. Die meisten hier nahe den Grenzen zu Kasachstan, Kirgisien und Afghanistan gehören zum Turk-Volk der Uiguren, neben den Tibetern sind sie die Alptraum-Minderheit der Parteiführung. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Protesten und Gewaltakten, meist provoziert durch brutale Übergriffe der Han-Sicherheitskräfte, die Messerattacken gewaltbereiter Muslime gegen Soldaten und Polizisten mit aller Härte ahndeten. In der Regionalhauptstadt Urumqi kamen im Sommer 2009 bei Straßenschlachten über 200 Menschen ums Leben, tagelang herrschte Ausnahmezustand auf den Straßen; auch in den Provinzorten Aksu, Hami und Hotan flammten immer wieder blutige Streitigkeiten auf. Aber am meisten haben die Behörden vor der Situation in Kaschgar Angst, der Oasenstadt an der legendären, einst über 10000 Kilometer führenden Seidenstraße, die Chinas Küsten mit Indien und dem Mittelmeer verbunden hat. Kaschgar halten sie für die Brutstätte des Aufruhrs.
Ich besuchte den Ort Anfang der Neunzigerjahre. Angereist von Pakistan über den Karakorum-Highway, noch erschöpft und atemlos von der
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