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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Linga , dem Zeichen Shivas.
    Alljährlich soll das Phänomen nur in der hinduistischen Zeit des Shravan , im Juli und August, zu bestaunen sein. Die Säule aus Eis erklären Wissenschaftler profan: Wasser tropft von der Decke, formt einen Eissockel am Boden, auf ihm entsteht ein Stalagmit. Die Formation nimmt mit dem Zyklus des Mondes zu und wieder ab, bei Vollmond erreicht das Gebilde seine größte Ausdehnung. Die Gläubigen lassen sich, sollten sie von solchen Erklärungen wissen, nicht von ihren inbrünstigen Gebeten abhalten: Der ständige natürliche Wechsel des Heranwachsens und Schwindens wird von ihnen als »lebendige« Anwesenheit Shivas gesehen. Wächter verhindern, dass die Pilger dem Phallus aus Eis zu nahe kommen und verkaufen für ein paar Rupien Blumengirlanden, die jeder in seine Richtung werfen darf, auch Münzen sind erlaubt. Und so warf auch ich eine Opfergabe.
    Die Wächter sind Sadhus, heilige Männer mit langen Bärten und natürlich unbewaffnet, aber ganz in der Nähe der Höhle steht das indische Militär Wacht. Anfang der Neunzigerjahre war Amarnath einmal vier Jahre unzugänglich, wegen Terrordrohungen geschlossen. Im Jahr 2000 hat ein von muslimischen Radikalen aus Pakistan verübter Anschlag dreißig Menschen das Leben gekostet. Seitdem muss sich jeder registrieren lassen, der zur Höhle will und unterwegs bei Stichproben auch durchsuchen lassen. Seit über einem Jahrzehnt gibt es nun keine Sicherheitsprobleme mehr. Die Wallfahrt ist äußerst populär, ständig werden Besucherrekorde gebrochen – 2012 schafften über 600000 Menschen innerhalb der acht möglichen Wochen den Weg zum Phallus. Viele sollen beim Trip im vergangenen Jahr enttäuscht gewesen sein: Shivas Eiszapfen war im Vergleich zu früher enorm geschrumpft, vermutlich Ausdruck der Erderwärmung oder anderer von Menschen ausgelöster Phänomene. 135 Pilger starben beim letzten Pilgerzug an Erschöpfung oder durch Unfälle – was tragisch war, aber doch ein tröstlicher Tod: Er sichert dem Gläubigen, wie das Ritual im Ganges, ewige Erlösung.
    »Sind eigentlich Andersgläubige in Amarnath auch willkommen?«, fragte ich auf dem Rückweg einen Hindu-Priester. Eigentlich nicht, antwortete der. Auch keine Buddhisten? »Doch, die schon. Die haben doch keine eigenständige Religion. Buddha ist für mich und die meisten Kollegen nichts anderes als die zehnte Inkarnation von Vishnu, hervorgegangen aus dem Mund des Brahma – kein ganz wichtiger Gott, aber einer von uns, aus Varanasi stammend und ein Teil der hinduistischen Tradition.«
    Vielleicht hätte sich die Lehre des Buddha noch viel schneller und umfassender verbreitet, wäre er öfter nach Benares gekommen. Nach allem, was man weiß, stattete er dem Ort nur ein paar Stippvisiten ab. Sie interessierte ihn nicht, obwohl er teilweise ganz in der Nähe wohnte, ja im Grunde sein ganzes Leben immer in einem höchstens 400 Kilometer umfassenden Radius um die Stadt herum verbrachte. Wahrscheinlich fand er die Geschäftigkeit der damals schon bedeutenden Handelsmetropole lästig. Er wusste, dass die Brahmanen auf seine Lehren allergisch reagierten, sie als Bedrohung ihrer Stellung sahen. Und er sparte ja auch selbst nicht mit Kritik an der höchsten Kaste des Hinduismus, verspottete ihre Rituale. Diese ganzen Waschungen und Opferzeremonien brächten einen spirituell nicht weiter und hätten keinerlei religiöses Verdienst, soll er der kleinen Schar seiner Anhänger in den Wäldern von Sarnath sinngemäß verkündet haben.
    Nur etwas mehr als zehn Kilometer nordöstlich der hinduistischen »ewigen Stadt« Varanasi liegt dieses Sarnath. Es ist einer der wichtigsten Orte des Buddhismus: der Platz, an dem Siddharta Gautama die Lehre verkündete. Etwa 300 Kilometer östlich, in Bodh Gaya im Bundesstaat Bihar, soll der asketische Fürstensohn seine Erleuchtung erfahren haben. Praktisch sein ganzes Leben hat er im heutigen Indien verbracht. Er gründete eine Weltreligion, die 1500 Jahre lang großen Einfluss in ganz Asien hatte und in vielen Regionen immer noch hat. In Indien sind davon geblieben: Ruinen. Fast nur Ruinen. Und Touristenattraktionen. Vorwiegend japanische und chinesische Gäste drängen sich um die 34 Meter hohe Dhamek Stupa in Sarnath, von Kaiser Ashoka im 3. Jahrhundert vor Christus erbaut, und um den alten, ehrwürdigen Baum der Erleuchtung in Bodh Gaya. Wohl knapp sieben Millionen Menschen auf dem Subkontinent bezeichnen sich heute noch als Buddhisten, vielleicht 0,5 und

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