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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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eindrucksvollsten Persönlichkeiten, die ich in Indien getroffen habe. Und keiner verkörpert für mich so die Widersprüchlichkeit, die Ambivalenz, ja das Schizophrene des hinduistischen Glaubens wie er.
    »Na, wieder einmal im Land?«, fragt er bei meinem Besuch im Jahr 2012 und streckt mir die Hände entgegen, als wolle er gleich die ganze Welt umarmen. Er lächelt, wie immer, gütig, verständnisvoll, an den Geschichten des Gasts interessiert. Er ist auch gekleidet wie immer, die weiße Kurta, das kragenlose Hemd, fällt über einen asketischen Körper, das schneeweiße Haar und der schlohweiße Schnurrbart verleihen ihm Würde und Gelassenheit, ein Gott der Güte. Und doch habe ich einen Schrecken bekommen, als Mishra in den Privatraum im Zentrum des Heiligtums kam, wo er mich wegen dringender Geschäfte einige Minuten hatte warten lassen müssen: Der Priester stützte sich auf zwei Mitarbeiter, konnte offensichtlich nur noch mit größten Schwierigkeiten gehen. Eine Krankheit, von der man schon früher gemunkelt hatte, wohl multiple Sklerose, hatte bei dem Mittsiebziger mit voller Wucht zugeschlagen. Es war schwer zu übersehen: Hier neigte sich ein großes Leben dem Ende entgegen.
    Wir setzen uns auf die einfache Couch. Erst mal muss ich erzählen. Ich berichte vom Vorabend, von den Puja -Prozessionen unten an den Ghats, den Opfergaben für Shiva, den kleinen Schiffchen mit Blumen, Früchten und Weihrauch, die viele Gläubige dem Ganges anvertrauten. Hara Hara Mahadeva Shambho! Kashi Vishvanath Gange, hatten sie immer wieder gerufen, »Gepriesen sei Shiva, der große Lord, Benares und Mutter Ganga!« Das gefällt dem Hindu-Priester. Und ich erzähle von dem alten Mann am Fluss, der im Schein des letzten nächtlichen Feuers gesagt hat: »Benares, das wahre Benares, das findest du nur in deinem eigenen Herzen.« Das gefällt ihm noch besser. Und ich erzähle ihm auch von den Leichenteilen, die ich wiedergesehen hätte, den Resten der Verbrannten, die flussabwärts schwammen, dem Kuhdung, den selbst am heiligsten Manikarnaka Ghat weiterhin eingelassenen Industrieabwässern, die den Fluss mal bläulich, mal grünlich schimmern lassen – weil ich weiß, das ist sein Thema, sein Kampf. Er wirft in Verzweiflung die Hände nach oben. Das gefällt ihm gar nicht.
    Mishra predigt nun schon seit Jahrzehnten, dass vom Wegschauen und Verschweigen nichts besser wird, er kämpft für die Reinheit des großen heiligen Flusses. Er ist nicht nur Experte für die Götter, sondern auch für die Bakterien; der Hohepriester hat zudem eine Professur für Ingenieurwesen. »Ich nehme jeden Morgen mein Bad im Ganges, ich bin ja ein gläubiger Hindu und kenne die Vorschriften. Aber ich weiß als Naturwissenschaftler natürlich, dass das ein Fehler ist – nicht einmal meinen kleinen Zeh sollte ich in die Kloake stecken«, sagt er. Und beklagt die Traditionalisten seiner Religion, die das mit den Selbstheilungskräften der Göttin Ganga wörtlich nehmen, die sagen, da sie doch von allen Sünden wasche, müsste sie auch selbst für alle Zeiten rein sein. Nur Ignoranten dächten, Heiliges sei nicht schutzbedürftig. »Was für ein rückständiger Unsinn!«
    Dass er mal ein Grüner wird, war ihm nicht gerade in die Wiege gelegt. Seit Generationen wird das Amt des Mahant in der Familie an den erstgeborenen Sohn vererbt. Darauf hat man auch Veer Bahadra Mishra durch eine sehr strenge und traditionelle Erziehung vorbereitet. Die besten Lehrer der Stadt unterrichteten ihn in Sanskrit und den Veden , er sollte die Sitar lernen, ein wenig auch Schauspielkunst und Ringen, das in Varanasi ein kulturell hochrespektierter Sport ist und als eine Form der kulturellen Betätigung gilt. Auf wissenschaftliche Fächer wurde weniger Wert gelegt. Nur weil der Sprössling besonders begabt für Mathematik war, ließ man ihn neben dem Privatunterricht auch an der höheren Schule lernen. Als er 14 war, starb der Vater; schon in diesem jugendlichen Alter begannen seine religiösen Pflichten, er wurde im Tempel zum spirituellen Führer geweiht. Die Mutter zeigte Verständnis, dass der junge Mann die Schule unbedingt abschließen wollte und akzeptierte nach langen Diskussionen schließlich auch, dass er Ingenieurwissenschaften studierte. »Eigentlich durfte ich ja nur religiöse Kleidung kaufen, weshalb meine Mutter heimlich für mich Hosen und später einen Tropenanzug erwarb, damit ich in der Uni nicht auffiel«, sagt Mishra. Er bestand seine Prüfungen mit

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