Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Flächenbrand führen könnten: Im Januar 2013 etwa töteten pakistanische Religionsfanatiker nach einem Scharmützel an der Waffenstillstandslinie nahe des Ortes Mendhar zwei indische Soldaten, schnitten ihnen die Köpfe ab und nahmen die Trophäen zurück über die Grenze. Nach wochenlangen Spannungen normalisierte sich die Situation wieder – bis auf Weiteres. Für die gesamte Region gilt der Status quo als die wahrscheinlichste Zukunft, mal mehr, mal weniger angespannt. Machtpolitik mischt sich auf beiden Seiten mit religiösem Extremismus.
Hinduistische Historiker verweisen auf den Dschihad der muslimischen Umayyaden, die in Sindh Anfang des 8. Jahrhunderts die Macht eroberten und in ihrem Kalifat begannen, die Andersgläubigen blutig zu verfolgen. Sie sehen eine direkte Verbindung zwischen den Zerstörungen der hinduistischen Kultstätten von damals bis zu den Verfolgungen unter dem Mogul-Kaiser Aurangzeb im 17. Jahrhundert. Indiens Geschichte ist in ihren Augen eine einzige Kette von Demütigungen, die geradlinig zur Gründung der radikalen Fundamentalistenschulen der Deoband (eine Art Vorläufer der Taliban) von 1860 und von da über die Blutorgien während der Teilung des Subkontinents 1947 bis zu den Terroranschlägen von Mumbai 2008 führt. Und sie verdächtigen indische Muslime auch heute noch, dem indischen Staat nicht ihre ganze Loyalität zu schenken, wenn »Glaubensbrüder« aus Pakistan über die Grenze einsickern und Gewalttaten »im Namen Allahs« begehen.
Muslimische Historiker wiederum neigen dazu, die sozialen Errungenschaften und die gestalterische Fortschrittlichkeit zu betonen, die Herrscher ihrer Religion Indien gebracht haben: eine ganze Anzahl weltberühmter Baudenkmäler beispielsweise, vom Taj Mahal in Agra über die Humayun-Gräber von Delhi bis zur Makkah Masjid in Hyderabad. Und sie betonen stets, wie sehr gerade Muslime bei der blutigen Teilung 1947 leiden mussten, wie sehr die im neuen Hindu-Mehrheitsstaat Zurückgebliebenen immer wieder Verfolgungen durch die Mehrheit ausgesetzt waren. In ihren Augen ist die Geschichte Indiens nichts anderes als eine Serie von Übergriffen. Die drei Kriege mit Pakistan, die schwelende Wunde Kaschmir dienen den Unversöhnlichen unter den Muslimen als weitere Beweise für ihre Benachteiligung. Sie fühlen sich als Minderheit nicht ernst genommen und, wenn Terrortaten verübt werden, unter Generalverdacht.
Beide haben ein bisschen recht – und sind in vielen Aspekten grob im Unrecht. Muslime in Indien genießen in der Tat einige Privilegen. Die Verfassung nimmt sie beim Eherecht vom sonst gültigen Civil Code aus: Männer dürfen bis zu vier Frauen haben, die muslimische Geburtenrate ist höher als der Landesschnitt. Bei familienrechtlichen Entscheidungen vor Gericht hat die Scharia Vorrang gegenüber den anderen Gesetzen. Die indische Regierung subventioniert Pilgerfahrten indischer Muslime zum Hadsch nach Mekka, eine Praxis, die nach einem Antrag hinduistischer Gläubiger auf Gleichbehandlung vom Obersten Gerichtshof in Allahabad jetzt eingeschränkt und bis zum Jahr 2017 ganz zurückgenommen werden soll. Man wird kaum sagen können, den Muslimen werde in Indien der soziale Aufstieg generell verbaut – drei der zwölf bisherigen Präsidenten Indiens waren Muslime (Zakir Hussain, Fakhruddin Ali Ahmed, Abdul Kalam), manche der erfolgreichsten Unternehmer des Landes (Azim Premji, Yusuf Hamied) bekennen sich zu Allah, ebenso viele der populärsten Bollywood-Filmstars (Shah Rukh Khan, Dilip Kumar, Madhubala). In der Armee, in den Sicherheitsdiensten und im Öffentlichen Dienst sind Muslime jedoch deutlich unterrepräsentiert. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung, ihr Bildungsstand, ihr Prokopfeinkommen liegen niedriger, als es der nationale Durchschnitt erwarten ließe. Auf jeden Politiker, Offizier oder Regisseur, der den Aufstieg geschafft hat, kommen Hunderte, die am Arbeitsplatz oder in ihrer Wohngegend diskriminiert werden.
Beiden Religionen gemein ist die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts. Die Diskriminierung der Mädchen beginnt mit der Geburt, oder präziser gesagt: während der Schwangerschaft. In sehr vielen, konservativ geprägten hinduistischen Haushalten gilt seit Jahrhunderten nur die Geburt eines Sohnes als freudiges Ereignis, eine Tochter wird als Belastung angesehen: Sie lässt sich nicht so früh und so intensiv als Arbeitskraft einsetzen, vor allem aber kostet ihre Verheiratung ein Vermögen – in den Bauernregionen
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