Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
mehr feststellen, wer angefangen hatte. Hindu-Priester fanden vor ihren Tempeltoren blutgetränkte Köpfe von Kühen, Sikh-Priester wurden in ihren Tempeln mit Hunderten Zigarettenkippen und Bierflaschen beworfen, eine ebenso große Ungeheuerlichkeit, da Tabak und Alkohol für diese Religion tabu ist. Blut floss auf beiden Seiten – und plötzlich war er wieder da, der Ruf nach einem eigenen Staat, nach »Khalistan«, dem »Land der Reinen«. Hunderttausende Sikhs marschierten im ganzen Land gegen die Zentralregierung in Neu-Delhi, der sie unterstellten, die Spannungen anzuheizen.
Angeführt wurden sie von Jarnail Singh Bhindranwale, einem besonders feurigen Radikalen, der wegen Hochverrat im Gefängnis gesessen hatte und von dort eine Terrorkampagne anzettelte, der mehr als fünfzig Polizisten zum Opfer fielen. Kaum wieder in Freiheit, hetzte der »Khomeini der Sikhs«, wie ihn Indiens Presse taufte, gegen Indira Gandhi. Bei unserem Gespräch in einem Hof des Goldenen Tempels zeigte er sich besonders kompromisslos: Konkrete Schritte Richtung Khalisten müssten kommen: »Sonst wird der Panschab in einem Meer von Blut ertrinken. Ich sehe schwarz für Indira Gandhi, die wir von der Macht verdrängen müssen, diese Whisky-Säuferin.« Die Ministerpräsidentin ließ bald nach meiner Abfahrt den Tempel vom Militär belagern, wollte Bhindranwale und seine Anhänger auf dem Gelände aushungern. Doch die militanten Separatisten beschafften sich über unterirdische Gänge Waffen und Nahrungsmittel und hielten dagegen. Monatelang zog sich das Schauspiel hin. Da verlor Indira Gandhi die Nerven und ließ am 3. Juni 1984 das Heiligtum stürmen. Die »Operation Blue Star« führte zu einer blutigen Katastrophe, mehrere Hundert Menschen starben auf beiden Seiten, Aufständische, Soldaten, Zivilisten; auch der »Khomeini der Sikhs« kam ums Leben.
Viele seiner Glaubensbrüder sahen ihn als einen Märtyrer und forderten Rache. Sie folgte vier Monate später. Am 21. Oktober 1984 wurde Indira Gandhi ermordet – erschossen von zwei ihrer Sikh-Leibwächter, die als besonders zuverlässig gegolten und sie über Jahrzehnte bewacht hatten. Bei anschließenden Pogromen starben mehr als 3000 Menschen, vor allem Sikhs. Wochenlang sah es so aus, als würde Indien im Bürgerkrieg versinken. Doch die Vernunft erlangte schließlich auf beiden Seiten die Oberhand. Die Politiker beruhigten, die Presse rief die Menschen zur Ordnung, die Gerichte bestraften Übergriffe, ohne eine Seite zu bevorteilen. Die Institutionen des Staates funktionierten, selbst in den schwersten Stunden. Und wenn auch heute noch die Beziehungen zwischen Hindus und Sikhs nicht spannungsfrei sind, scheint eine Wiederholung der schlimmen Vorgänge von damals doch so gut wie ausgeschlossen. Bei einem Zahlenverhältnis von fünfzig zu eins zwischen Hindus und Sikhs ist den Nüchternen unter den »Reinen« klar, dass aus Khalistan nichts werden kann, dass sie sich wohl oder übel mit der Mehrheit arrangieren müssen.
Ganz so einfach liegen die Dinge im Verhältnis zwischen Islam und Hinduismus nicht. Fast 14 Prozent der indischen Staatsbürger sind Muslime, 165 Millionen Menschen, weit mehr als in jedem arabischen Staat; nur in Indonesien und Pakistan ist ihre Zahl noch größer. In einem einzigen indischen Bundesstaat stellen sie die Mehrheit, in Jammu und Kaschmir – der Problemregion auf dem Subkontinent schlechthin. Auch wenn es im Jahr 2013 scheint, als könnten die schlimmsten Übergriffe der indischen Militärs auf sogenannte muslimische Unruhestifter – und umgekehrt deren Provokationen gegen die als »Besatzungsmacht« empfunden Soldaten – nachgelassen haben, bleibt die Gefahr. Noch immer streben viele muslimische Kaschmiris nach der Unabhängigkeit. Einige wenige wollen sich Pakistan anschließen, das seine eigene Provinz »Asad Kaschmir« hat; Ansprüche in der Region stellen auch die Chinesen auf dem von ihnen so benannten »Aksai Chin«-Plateau im hohen Himalaja. Die Regierungen in Neu-Delhi, Islamabad und Peking sind sich bis heute nicht über die Grenzziehungen einig, alle beanspruchen Land, das von einem anderen »besetzt« ist. Eine UNO -Resolution mit der Forderung nach freien Wahlen über die Zukunft der Kaschmiris wurde mehrfach verabschiedet und steht bis heute im Raum – nichts spricht dafür, dass es jemals zu einem Volksentscheid kommen wird. Aber immer wieder zu kleineren militärischen Auseinandersetzungen, die im schlimmsten Fall zum
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