Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Industriefirmen der Region, allesamt Dreckschleudern, um sich teuren Umweltauflagen zu entziehen. Mishra aber kämpfte unverdrossen weiter, unterstützt hauptsächlich durch ausländischen Spender, »motiviert durch den Respekt und die Liebe für den Fluss wie seine Anwohner«, wie er es formuliert. Sein kleines wissenschaftliches Team tat sich mit einem kalifornischen Forscher zusammen. Gemeinsam entwickelten sie ein innovatives Konzept: Das Gangeswasser sollte an bestimmten Stellen in vier unterschiedlich tiefe Pools geleitet werden. Durch die Zugabe von Mikroben und Algen und unter Mitwirkung von Sonne und Sauerstoff könnten dort die Fäkalkeime zersetzt werden. Experten der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Science lobten das »Advanced Integrated Wastewater Oxidation Pont System« ausdrücklich.
Und doch wird auch dieser aussichtsreiche, mit Natur und Religiosität in Einklang stehende Plan nun schon seit Jahren wieder zerredet. Mishra kommentiert das mit einer für ihn untypischen Bitterkeit: »Unser Vorschlag hat zugegebenermaßen einige entscheidende Schwächen: Er ist relativ preiswert, er ist ziemlich einfach und beschäftigt lokale Arbeitskräfte. Teure Projekte der Regierung, bei denen Bestechungsgelder abgezweigt werden, würden damit überflüssig.« Mishras Fazit: »Die in Delhi sehen ihre Profite davonschwimmen, die wollen es nicht. Denn es könnte funktionieren.« Der Umweltaktivist, der heilige Krieger für die Mutter aller Inder, aber will nicht aufgeben. Er glaubt Hinweise dafür zu haben, dass sich 2013 etwas tun könnte. Er hofft auf ein neues Gespräch mit der politischen Führung in der Staatshauptstadt Neu-Delhi und in der Landeshauptstadt Lucknow. »Mangelnde Geduld ist im Hinduismus genauso eine Sünde wie Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der anderen«, sagt Veer Bhadra Mishra zum Abschied. Schleppt sich hinaus zu den Gläubigen, die den abendlichen Tanz begonnen haben, hinunter zum Assi Ghat, wo er direkt über dem Fluss seine Wohnung hat.
Es bleibt die Frage im Raum, die auch er nicht beantworten kann: Warum ist so vielen gläubigen Hindus so wichtig, den Geburtsort Ramas zu bewahren, warum kämpfen sie nicht mit mindestens derselben Leidenschaft darum, ihre Göttin Ganga und damit auch die Lebensgrundlagen der Menschen an ihren Ufern zu retten? Warum definieren sie sich so leicht gegen etwas – die »Unverfrorenheit der Muslime«, die »Missachtung durch die Sikhs«, die »Missionierung durch die Christen« – und so schwer für etwas wie die eigenen Wertvorstellungen? Muss Hinduismus mehr sein als religiöse Identitätssuche im privaten Rahmen, ein nationaler Kitt?
Das Jahr 2013 war für die gläubigen Hindus durch die Kumbh Mela geprägt – einmal alle zwölf Jahre findet sie statt, und dann strömen zwischen dreißig und vierzig Millionen Menschen nach Allahabad an den Ganges, zum größten gemeinsamen Bad der Menschheit. Zur Massenandacht. Zur Massenhysterie.
Eine der anderen berühmten Pilgerreisen, vielleicht die spektakulärste von allen, führt den Himalaja zu einer heiligen Höhle hinauf. Startpunkt ist Baltal, ein kleines Dorf bei Srinagar in Kaschmir. Dreißig Kilometer führen schwindelerregende Bergpfade auf 3888 Meter, über reißende Bäche, an Geröllfeldern und Gletschern entlang, mehr als 150000 Schritte sollen es sein. Zunächst mühsame, dann sehr mühsame, am Schluss quälende Schritte. Tröstlich ist nur der keuchende Atem der anderen, denen es offensichtlich nicht besser geht. Es ist ein außergewöhnlicher Zug: Heilige Männer in orangenen Hosen und mit Turbanen, aber trotz der Kälte mit nacktem Oberkörper. In Pelze geschlungene Frauen in Joggingschuhen und mit Stöcken ausgestattet, Männer mit Wintermänteln und Winterstiefeln nach dem letzten Outdoor-Schrei. Feiste Städter, die sich von ihren Angestellten begleiten lassen und auf Pferden reiten. Kranke, die auf Tragbahren nach oben transportiert werden. Tatsächlich treffen sich zu dieser Wallfahrt in jedem Sommer Pilger aus allen Regionen Indiens, Pilger aller Bevölkerungsschichten. Und dann endlich ist der Ort der Andacht erreicht, die Höhle, in der Shiva seiner göttlichen Lebensgefährtin Parvati die Geheimnisse des unsterblichen Lebens und der Ewigkeit erklärt haben soll. Ganz abgelegen sollte es sein, sodass keiner lauschen konnte. Ein Ort des Wunders. Denn jeder der Gläubigen, der nach Amarnath kommt, betet in der Grotte zu einer merkwürdigen Erscheinung, einem Phallus aus Eis, dem
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