Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
0,6 Prozent der indischen Bevölkerung. Eine eigenständige Rolle im öffentlichen Leben spielen sie schon lange nicht mehr.
Chinesische Gelehrte berichteten schon im 6. Jahrhundert nach ihren Reisen in Zentralindien vom Niedergang des Buddhismus. Die Glaubensgemeinschaft, der die Konversion des Kaisers Ashoka zu ihrer größten Verbreitung verholfen hatte, war offensichtlich zu wenig auf die Erhaltung weltlicher Macht ausgerichtet. Ihr intellektuelles Gedankengebäude war in breiten Schichten des Volkes nicht tief verwurzelt, ihre oft asketischen Jünger zu unorganisiert. Die Brahmanen gewannen wieder an Einfluss, und nach dem Siegeszug muslimischer Truppen wurde die Bewegung fast ganz absorbiert. »Der Buddhismus in Indien ist schon seit 700 Jahren ausgestorben«, fasst bereits 1903 der Forschungsreisende Anton Gueth zusammen. »Nachdem er sich schon lange im Niedergang befunden hatte, erhielt er zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert den Gnadenstoß durch die Armeen des Propheten Mohammed«, weiß der Indologe John Snelling.
In Indien gibt es viermal so viele Christen wie Buddhisten, etwa 2,4 Prozent der Bevölkerung – auch sie haben eine eindrucksvolle Vergangenheit auf dem Subkontinent, auch sie spielen im täglichen Leben heute eine eher bescheidene Rolle. Schon im 1. Jahrhundert hat der Apostel Thomas im südlichen Kerala die Menschen bekehrt, so wurde die Religion früher in Indien verankert als in manchen Teilen Europas. Im Mittelalter wurden Goa und Cochin portugiesische Zentren, katholische Geistliche bauten prachtvolle Kirchen, später folgten protestantische Missionierungswellen. Nicht immer waren die Beziehungen zu den Anhängern der Mehrheitsreligion im Land spannungsfrei. Vor allem in den vergangenen zwanzig Jahren kam es zu vereinzelten Übergriffen rechtsnationaler Hindutva-Fundamentalisten. Fragt man heute Inder, welche Katholiken im Land sie kennen, wird man – nach längerem Nachdenken – meist zwei Namen hören: Mutter Teresa, die sich in Kalkutta um die Ärmsten kümmerte; und Sonia Gandhi, die italienische Frau des ermordeten Premier Rajiv Gandhi.
Eine beachtliche Rolle in Indien spielen die Sikhs, mit 24 Millionen Gläubigen die drittgrößte spirituelle Kraft. Sie sind überproportional vertreten in allen Spitzenpositionen der nationalen Verwaltung und des Militärs. Keine indische Regierung würde sich getrauen, sie zu vernachlässigen – vor allem nicht mehr, nachdem militante Vertreter der Sikhs zur »vielleicht größten Herausforderung seit Bestehen des Staates wurden«, wie 1983 India Today etwas panisch formulierte.
Ich war damals in Amritsar, der von Sikhs dominierten geistigen Hauptstadt der Bewegung mit ihrem berühmten Goldenen Tempel, und begann meine Reportage mit einer eher allgemeinen Beobachtung: »Gibt es sonst noch eine Stadt auf der Welt, in der 700000 Menschen leben, von denen 400000 noch nie in ihrem Leben bei einem Friseur waren und genau den gleichen Namen tragen?« Alle Sikhs heißen von Geburt an Singh, was so viel wie »Löwe« bedeutet. Alle Sikhs verzichten von Geburt an darauf, sich Haupt- und Barthaare zu stutzen, das ist kes , eines der fünf Hauptgebote, das die Anhänger dieser Religion befolgen müssen. Die weiteren Vorschriften: Sie sollen unter dem Turban einen Kamm (kanga), als Waffe einen Dolch (kirpan) und als Schutz einen stählernen Armreif ( kara ) tragen; außerdem muss ein Sikh stets in eine knielange Unterhose (kachera) gekleidet sein. Das hilft angeblich, sexuelle Erregung zu unterdrücken.
Guru Nanak Dev, der Religionsstifter aus dem 16. Jahrhundert, war auch ein Sozialreformer: Er hatte das Kastensystem und Praktiken wie Kinderhochzeit und Witwenverbrennung scharf angegriffen. Keine Art von Arbeit sollte Nanaks Jüngern zu entwürdigend sein, demonstrativ nahm der Heilige stets seine Mahlzeiten mit den Ärmsten gemeinsam ein. Die Anhänger der neuen Glaubensgemeinschaft zahlten steuerähnliche Abgaben an die Priester in den Gurdwaras, den Sikh-Tempeln. Über Jahrhunderte hatten die Sikhs weitgehend friedlich mit ihren hinduistischen Nachbarn zusammengelebt. Nur gelegentlich, wenn sie sich unterdrückt fühlten, flammte der Ruf nach einem eigenen Staat auf. Und dann griffen sie auch zu den Waffen, denn Krieg zur eigenen Verteidigung war von ihrem Glauben nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert.
Die Spannungen Anfang der Achtzigerjahre entzündeten sich an gegenseitigen Provokationen, und wie so oft in der Geschichte ließ sich nicht
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