Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
der Großstädte tief verankert.
Der Hinduismus prägt nicht nur den Umgang zwischen Männern und Frauen. Er legt durch sein Kastensystem auch gesellschaftliche Normen fest. Kaste heißt auf Sanskrit Varna und bedeutet so viel wie Farbe, Kategorie, Stand, Klasse, Rang. Anders als in jeder anderen Religion werden auf diese Weise Sozialstrukturen festgelegt – die Zugehörigkeit war traditionell entscheidend für die Wahl des Ehepartners, die Berufswahl, die Kontakte zur Umwelt bis hin zu den gemeinsamen Mahlzeiten, die so ermöglicht oder verhindert wurden.
Man unterscheidet bis heute vier Hauptkasten, in der Reihenfolge ihres Ansehens. An der Spitze stehen die Brahmanen (traditionell die intellektuelle Elite, Priester, Spitzenpolitiker); es folgen die Kshatriyas (Offiziere und höhere Beamte); dann die Vaishyas (Händler, Kaufleute, Landwirte); am Schluss die Shudras (Bauern, Arbeiter, Tagelöhner). Unter ihnen rangieren noch die Kastenlosen, die Unberührbaren, die Mahatma Gandhi Harijans nannte, »Kinder Gottes«; im heutigen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung Dalit durchgesetzt. Die Religion, der mehr als vier von fünf Indern angehören, führt so zu einer seltsamen und unerfreulichen Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl und Überlegenheitsphantasie. Indien hat die Ketten des Kastenwesens nicht gesprengt. Daran hat der Verfassungsbeschluss von 1949, mit dem diese Gliederung formal aufgehoben wurde, wenig geändert.
Noch Ende der Siebzigerjahre nannte der in der Karibik geborene indische Autor und spätere Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul das Land seiner Vorfahren »eine verwundete Kultur«. Er prangerte die Mehrheitsreligion in aller Schärfe an: »Die Menschen hatten sich auf ihre letzte, uneinnehmbare Verteidigungslinie zurückgezogen, auf ihr Wissen, wer sie waren, welcher Kaste sie angehörten, auf ihr Karma, auf ihren unverrückbaren Platz im Gefüge der Dinge; und dieses Wissen war wie das Wissen um den Wechsel der Jahreszeiten. Rituale begleiten den Ablauf des Tages, begleiten jedes Stadium des menschlichen Lebens. Das Leben selbst ist zu einem Ritual geworden … Die Tradition hat die Menschen unterdrückt, der Hinduismus ist schuld an Tausenden Jahren der Niederlagen und Stagnation.«
Erst in den beiden vergangenen Jahrzehnten haben die vermehrten wirtschaftlichen Chancen, das Entstehen einer neuen Mittelklasse in den Metropolen die Kasten-Beschränkungen und Berufsfestlegungen aufgeweicht. In den weniger entwickelten Teilen Indiens schränkt das Korsett der Kasten die freie Entfaltung der Kräfte jedoch weiter erheblich ein. Sie ist ein Entwicklungshemmnis. Das zeigt sich allein schon an der niedrigen Stellung, die Geschäftsleute im hinduistischen Glaubenssystem einnehmen: Sie stehen unter den vier Hauptkasten an vorletzter Stelle. Und doch macht Hoffnung, wie viele junge Menschen Religion und Kultur nicht mehr als Schicksal begreifen, nicht als in Stein gemeißelte, unverrückbare Leitlinie ihres Lebens. Sondern als etwas Lebendiges, Veränderbares, Positives.
Heute suchen sich viele Inder jenseits vorgeschriebener hinduistischer Rituale einen spirituellen Ratgeber. Guru heißt der, was auf Sanskrit schlicht »Lehrer« bedeutet. Gelegentlich gehen dabei Seriosität und Scharlatanerie nahtlos ineinander über. Und gelegentlich faszinieren in der Heimat prominente Gurus auch Menschen im Westen.
So geschehen bei Bhagwan Shree Rajneesh, der sich später »Osho« nannte. Er wurde fast so etwas wie der Guru der deutschen gehobenen Schichten, zwischenzeitlich spiritueller Ratgeber so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie der Schauspielerin Barbara Rütting (»Ma Anand Taruna«), dem Philosophen Peter Sloterdijk (»Swami D. Peter«), der Benjamin Blümchen - und Bibi Blocksberg -Autorin Elfie Donnelly (»Ma Ansasha«) und dem Musiker Georg Deuter (»Swami Chaitanya Han«). Das Phänomen Osho endete auch nicht mit dessen Tod. Der Guru, der behauptete, nie einer sein zu wollen, hat heute hierzulande zwischen 30000 und 40000 feste, initiierte Anhänger. Die sogenannten Sannyasin pilgern weiterhin zu seiner alten Wirkungsstätte ins indische Poona (Pune) oder tun sich in selbst gegründeten Ashrams und Selbsthilfegruppen von der Nordsee bis zum Bayrischen Wald zusammen.
Ich kam Ende der Siebzigerjahre zum ersten Mal nach Poona, um über den Ashram zu schreiben. Der hochgeschätzte Journalist und stern -Kollege Jörg Andrees Elten hatte sich bei seiner Reportage für das Magazin, wie ich
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