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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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und in den Kleinstädten müssen sich bis heute viele Eltern verschulden, um die traditionelle Mitgift aufbringen zu können. Zwar ist die Früherkennungsdiagnostik während der Schwangerschaft inzwischen gesetzlich verboten, aber in indischen Metropolen dennoch gängige Praxis. Eine große Zahl werdender Mütter lässt schon im dritten Monat der Schwangerschaft überprüfen, welches Geschlecht ihr Kind hat – und viele weibliche Föten werden illegal abgetrieben. So kommt es, dass in Indien weitaus mehr Jungen als Mädchen geboren werden. In dieser Statistik der Geschlechterungleichheit nimmt das Land international einen traurigen Spitzenplatz ein, knapp vor China und weit vor Brasilien. Dass auch viele kleine Mädchen nach der Geburt getötet werden, lässt sich nur vermuten; nur wenige solcher Fälle gelangen vor Gericht.
    In der Frühzeit des Hinduismus sollen Frauen relativ viele Freiheiten genossen und eine große Rolle in der Gesellschaft gespielt haben. Interessanterweise sind ja außergewöhnlich viele Gottheiten sowie alle heiligen Flüsse der hinduistischen Lehre nach weiblich. Aber spätestens im Mittelalter verfiel Indien in die vertrauten Rollenbilder einer sexistischen, männerdominierten Gesellschaft. Die britischen Kolonialherren taten sehr wenig, um daran etwas zu ändern – viel spricht dafür, dass sie entgegen ihren eigenen aufgeklärten Auffassungen die hierarchische Kastenordnung sogar absichtlich vertieften. Das erleichterte ihnen das Auseinanderdividieren der Volksgruppen, das Teilen und Herrschen. Und noch immer gilt die Tochter in den Dörfern und Kleinstädten vielfach nur als eine Art Gast in der Familie.
    In den Großstädten ist dieses traditionelle Rollenbild aufgebrochen. Da geben sich junge Frauen nicht mehr mit einer dem Manne untergeordneten Stellung zufrieden. Sie kämpfen für ihre Rechte, und viele haben diese schon erobert und füllen sie selbstbewusst aus. Auch wenn es selbst in Metropolen wie Mumbai, Chennai oder Neu-Delhi immer noch weitverbreitet ist, dass Eltern einen Ehepartner für ihre Tochter suchen (und dabei präzise angeben, aus welcher Kaste der Möchtegern-Bräutigam stammen, wie viel Geld er verdienen muss), so ist das doch nicht mehr die Regel. Viele berufstätige Frauen suchen sich heute ihre Partner selbst aus, Sex vor der Ehe ist kein Tabu mehr. Und sie nehmen sich im Alltag alle Freiheiten, die auch ihre Geschlechtsgenossinnen anderswo haben: Sie tragen gern enge Jeans und ausgeschnittene Blusen, bummeln durch die modernen Einkaufszentren, gehen tanzen. Langsam setzt sich in der neuen Mittelschicht auch die Erkenntnis durch, dass junge Frauen heute genauso große berufliche Möglichkeiten haben wie junge Männer und ihre Verdienstmöglichkeiten, wenn überhaupt, nur marginal geringer sind. In der IT -Branche und in der Biomedizin holen weibliche Arbeitskräfte stark auf. In Service-Berufen wie in Call-Centern, die sehr oft als ein berufliches Sprungbrett nach oben fungieren, sind sie sogar dabei, ihre männlichen Konkurrenten auszustechen.
    Auffallend viele junge Männer, vor allem aus den unteren Schichten der Gesellschaft und aus den Kreisen der Ultrareligiösen, kommen damit nicht zurecht. Für sie sollen Frauen gehorsam, leise und zurückhaltend sein, ganz nach den alten Texten der Veden , in denen es heißt, eine Frau habe zeitlebens dem Manne »untertan« zu bleiben, »Selbständigkeit kann sie nie erlangen«. Der Über-Gott Rama wird in der Religion zum Idealmann stilisiert. »Aber was für ein Mann ist das?«, fragt die indische Psychologin Rashan Imhasly und rekapituliert die Geschichte des Ramayana -Epos: Als ihn sein Vater nach einer Intrige seiner Mutter für 14 Jahre ins Exil schickt, statt ihn wie versprochen zum König zu machen, fügt er sich in sein Schicksal und unterwirft sich, statt gegen die väterliche Autorität und die dahinterstehende mütterliche Macht aufzubegehren.
    So ist es bis heute. Die Lebensentwürfe vieler indischer Männer und Frauen klaffen derzeit immer weiter auseinander – die einen wollen ihre angestammte Dominanz nicht aufgeben, die anderen denken nicht daran, sich unterzuordnen. Frauen üben dieselben Berufe aus, sie suchen Partner, die sie als sexuell gleichberechtigt ansehen und ihnen auch im Haushalt helfen; Männer suchen Sexualobjekte und denken gar nicht daran, beim Einkauf oder gar der Erziehung der Kinder mitzuwirken. Das traditionelle hierarchische Denken ist vor allem in den Dörfern und in den Slums

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