Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
ich besuche praktisch jede Woche die Slums, ich kenne die Not der Menschen. Eine Kirche, die sich als Erbe von Jesus Christus versteht, der ja selbst ein Armer war und nicht an Altersschwäche gestorben ist, sondern für uns alle am Kreuz – sie muss die natürliche Alliierte einer Bewegung von unten sein. Die katholische Kirche von heute hat den Menschen in ihrem Alltagsleben nichts mehr zu sagen. Es ist eine Illusion zu glauben, durch doktrinäre Dokumente und durch doktrinäres Verhalten das Leben der Gläubigen bestimmen zu können. All diese Probleme kristallisierten sich in Benedikt XVI . Ihm fehlte es an Charisma, er war ein eher schüchterner und hochintelligenter Professor, der unter seinem öffentlichen Amt zu leiden schien und Schwierigkeiten hatte, auf Menschen zuzugehen. Einer, der sich lieber in wissenschaftliche Arbeiten vertiefen würde, als hinaus in die Welt zu reisen und wirklich zuzuhören. Er strahlte Tristesse aus, nichts als Vorgestrigkeit und Tristesse.«
Boff hat sich in Rage geredet, und so streitlustig, so temperamentvoll, so analytisch, so emotional bleibt er während des ganzen nachmittäglichen Gesprächs mit mir und dem SPIEGEL -Kollegen Jens Glüsing. Ein Mann Mitte siebzig, dem sein Alter nicht anzumerken ist, Feuer im Blick, Feuer auf der Zunge. Mit seinem wallenden Bart und dem vollen schlohweißen Haupthaar wirkt er nicht nur äußerlich wie eine eigenwillige Mischung aus Karl Marx und Santa Claus. Seine scharfe Abrechnung mit dem Vatikan und seinen Päpsten hat auch eine persönliche Komponente – die Verve lässt sich teilweise wohl auch aus seinem Lebenslauf, aus seinen Lebenserfahrungen erklären. Er stammt aus kleinen Verhältnissen, seine Eltern waren italienische Einwanderer, die Familie hatte auch deutsche Wurzeln. Schon als junger Mann trat er in den Franziskaner-Orden ein, studierte dann Philosophie in Curitiba und Theologie in Petrópolis. Frühzeitig schon kümmerte sich Boff, eher ungewöhnlich in einer lange Zeit auf den Status quo fixierten und auf die Vatikan-Hierarchie ausgerichteten brasilianischen Kirche, besonders um die Ärmsten der Armen in seiner Diözese. Dom Hélder Câmara wurde zu seinem Helden: Der Bischof von Rio (und spätere Erzbischof von Olinda und Recife) besuchte die Elendsviertel und kämpfte in seinen Predigten für bessere Wohnverhältnisse und Lebensbedingungen in den Favelas. 1963 richtete Câmara einen offenen Brief an seine Mitbischöfe, in dem er sie beschwor, dem äußeren Reichtum der Kirche abzuschwören. Politisch wurde das zumindest geduldet. Doch am 31. März 1964 endeten die Reformbemühungen des brasilianischen Präsidenten João Goulart, statt eine Konfrontation mit dem von der CIA zum Putsch ermutigten Militär zu riskieren, floh er ins Exil nach Uruguay.
1964 war auch das Jahr, in dem Boff zum Priester geweiht wurde. Der Hochbegabte war hin- und hergerissen, ob er sich gleich mit den Militärherrschern anlegen sollte. Aber er wollte sich auch weiterbilden, die Welt kennenlernen. Er studierte in Würzburg, Louvain und Oxford, wurde an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zum Schüler von Karl Rahner. 1970 promovierte er in Dogmatik – Zweitgutachter seiner Doktorarbeit war Joseph Ratzinger. Daraus entwickelte sich eine lebenslange intellektuelle Beziehung, früher einmal sehr freundschaftlich, seit Längerem sehr angespannt. »Ich habe Ratzinger viel zu verdanken. Er hat meine Dissertation sehr gelobt und sich dafür eingesetzt, dass sie gedruckt werden konnte. Ich weiß noch genau, 14000 Mark Zuschuss, die habe ich nur durch seinen Einsatz erhalten. Ratzinger war damals, anders als heute, offener, zugänglicher. Ich habe Schwierigkeiten, mir zu erklären, was am Heiligen Stuhl mit Ratzinger passiert ist. Aber ich habe vergleichbare Rückentwicklungen auch bei anderen beobachtet, die nach Rom gegangen sind – es muss so etwas wie ein vatikanisches Virus geben, das die Leute da befällt. Ratzinger jedenfalls hat es zerfressen.« Boff selbst klingt verbittert, als hätte er noch viel aufzuarbeiten. »Ach, lassen wir diese psychologisch Ebene«, sagt er, »ich habe gute Gründe für meine Kritik an ihm. Er hat mich bald nicht mehr eingeladen nach Rom. Er hat mich vorgeladen.«
Anfang der Siebzigerjahre war Boff nach Brasilien zurückgekehrt und hatte an der Universität von Petrópolis eine Professur für Systematische Theologie angenommen. Er gab eine theologische Zeitschrift heraus und betreute daneben bei Vozes,
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